(Übertragung der biblischen Aussagen in das moderne Lebensgefühl) Wir haben das Werden des erlösten Menschen kennengelernt, haben auch sein Wesen studiert: nun stehen wir vor seinem Wirken. Hier müssen Sie eingliedern, was vom 12. Kapitel des Römerbriefes ab dasteht. Es sind die sittlichen Forderungen des hl. Paulus. Ich könnte mir hier meine Aufgabe sehr leicht machen, indem ich das, was der hl. Paulus an sittlichen Anwendungen bringt, in das moderne Lebensgefühl übertrage und ein wenig zeitgemäß färbe (1). Ich möchte das aber nicht tun. Ich möchte Ihnen ein geschlossenes System mitgeben. Ich werde darum im folgenden nicht mehr so stark auf die einzelnen Texte zurückkommen, denn sie sind leicht verständlich. Ich will Ihnen lieber einen Rahmen spannen, in den hinein Sie das stellen und einordnen können, was der hl. Paulus uns im Römerbrief noch sagt. Es handelt sich also um eine Übertragung der Gedanken des hl. Paulus in letzte Sinnzusammenhänge, wie sie uns heute aus der modernen Psychologie zugänglich sind. Aus den Höhen der übernatürlichen Welt steigen wir nun ins Konkrete hinab. Da kann ich mir denken, daß nicht wenige von uns etwas befreiter werden. Wer ja nicht von Hause aus in der Welt, die wir seither behandelt haben, heimisch war, mag etwas zu sehr in den luftleeren Raum geschaut haben. Aber es bleibt doch: Das Wesen des erlösten Menschen ist die Teilnahme an dem Leben, das wir betrachtet. So haben manche von uns mit allerlei Lieblingsmeinungen aufräumen müssen. Viele stellen sich ja zunächst unter dem erlösten Menschen einen sittlich hochwertigen Menschen vor. Aber der sittlich hochwertige Mensch ist nicht das innere Wesen des erlösten Menschen. Paulus zeigt ihn uns als Wirkung des erlösten Menschen. Er möchte auch sittlich qualifizierte Menschen. Aber dieser hochqualifizierte Mensch soll eine irdische Entfaltung des göttlichen Lebens sein (2). Wir alle sind vermutlich an den künftigen Gedankengängen sehr stark interessiert. Besonders deswegen, weil wir die Frage beantwortet bekommen: Was müssen wir, die wir erlöst sind, denn nun eigentlich tun? Diese Frage ist überaus aktuell. Wir haben bisher ständig die Linie des christlichen Humanismus gezogen. Wir müssen darum auch das Wirken des erlösten Menschen, die irdische Entfaltung des übernatürlichen Lebens klarhaben, um den Zielgedanken des christlichen Humanismus weiterzuverfolgen und immer wieder schärfer herausstellen zu können. Wenn wir erklärten, katholische Anthropologie kennt Selbst- und Fremderlösung, so müssen wir sagen: Bisher haben wir nur von Fremderlösung - die allerdings Mitwirkung verlangt und insofern in etwa Selbsterlösung ist - gesprochen. Aber jetzt, wo es sich um die Frage dreht, was wir tun müssen, die wir schon erlöst sind, steht ganz im Vordergrund die Selbsterlösung (3). Da müssen wir uns fragen: Wie sieht diese Selbsterlösung aus als starkes Gegengewicht gegen die einseitige Selbsterlösung des Neuheidentums? Oder den Protestanten gegenüber formuliert: Welche guten Werke muß ich denn nun tun, um in den Himmel zu kommen? - Damit haben wir uns auf den dritten Teil unserer Exerzitien eingestimmt und ihn in größere Zusammenhänge hineingestellt. Aus all dem, was wir bisher besprochen haben, mag uns schon klar sein, daß zwei Faktoren zusammen wirksam sein müssen, die uns die Frage nach dem Wirken des erlösten Menschen beantworten: die Übernatur und die Natur, das Göttliche und das Menschliche. (Natur und Übernatur) Die Übernatur. Das göttliche Leben in uns ist ja nicht nur Seinsprinzip, sondern auch Lebensprinzip mit allen einschlägigen Lebensgesetzen. Es möchte sich also entfalten, besitzt also Entfaltungstendenzen. Deswegen auch unsere schlichte Formulierung: Das Sittliche ist die Entfaltung des göttlichen Lebens. Wenn ich also die Gesetzmäßigkeiten meiner Mitwirkung, meines Wirkens als erlöster Mensch erschließen will, muß ich ausgehen von dem Wesen des übernatürlichen Lebens. Die Natur. Aber auch die Natur hat ein Wort mitzusprechen. Es ist ein großer Irrtum, wenn wir zur Überwindung des heidnischen Humanismus ausschließlich übernatürlich werden wollen. Die Gefahr ist groß. Wir haben ja schon zu Anfang der Exerzitien uns ganz ernst gesagt, daß wir nicht in die Übernatur hineinflüchten, um uns dort ein Kuckucksheim zu bauen. Wir dürfen nicht Extreme durch Extreme beantworten. Wir müssen den ganzen Menschen sehen. Wir müssen hinein in die Übernatur, aber nur um wieder hineinzusteigen in die Natur. Was die Gegenseite will, müssen auch wir wollen, aber nur mit der Gnade: Ein Mensch, der umso mehr Arier (4) ist, als der Christ, der umso natürlicher ist, als er übernatürlich ist. Es muß also auch die Natur ein Wort mitsprechen bei der Frage, wie die Wirkungen des erlösten Menschen aussehen. Nehmen Sie zur Vertiefung des Gesagten das bekannte Prinzip: Gratia naturam non destruit, sed perficit et elevat (5). Non destruit: Die Gnade will die Natur nicht zerstören, d.h. für unsern Fall: Die Gnade wirkt auch naturgemäß, sie paßt sich in ihrer Wirksamkeit den gesunden Gesetzen der Natur an - und zwar der individuellen und sozialen Natur in der betreffenden Zeit, in der diese Natur lebt (6). Sed perficit: Daß die Gnade die Natur nicht zerstört, das allein genügt noch nicht, sie vervollkommnet auch die Natur. Der begnadete Arier also müßte die gesunden Eigenschaften des Ariers stärker in sich entfalten als der Nichtarier. Et elevat: Sie erhebt die Natur in eine neue Seinsebene. Das haben wir im zweiten Teil unserer Exerzitien ausführlich besprochen. (Der Einfluß auf die Wirkweise) Der Einfluß der Natur: Bei der Wirkweise, bei der Bestimmung der Wirkweise des erlösten Menschen hat ein Wort mitzureden die Natur. Die Natur als bestimmender Faktor wird mit umschrieben durch die Psychologie, die Natur-, die Willenspsychologie. Was die uns sagt, müssen wir darum wissen oder studieren. Lassen Sie mich zur Illustration einige Beispiele anführen, indem ich kritisch hineinschaue ins eigene Lager. Ob Sie mit mir einverstanden sind, wenn ich einmal hineingreife in das religiöse Gemeinschaftsleben und wenn ich da erkläre: Weil viele von uns die gesunde Psychologie so stark übersehen bei ihrer aszetischen Schulung, deswegen so viele Zerrbilder, die herauskommen? Ich könnte freilich auch umgekehrt sagen. Ich stelle eben hier getrennt dar, was als Gesamtheit gesehen werden muß. Zerrbilder. Man sagt heute manchmal: Ordensfrauen, das sind angezogene Dienstmädchen, oder angezogene Lehrerinnen. Das will heißen: Sie haben ihre ungeläuterte Natur mit in den Orden hineingenommen, und anstatt daß die Natur kultiviert würde, haben sie über die ungeläuterte Natur das Ordenskleid gestülpt. Das stellt ernste Fragen. Oder sieht es nicht manchmal aus, als ob Menschen, die das religiöse Kleid tragen, religiöse Garderobenständer wären? Es sind das alles volkstümliche Formulierungen für ernste Wahrheiten. Wir alle, auch die wir stark übernatürlich eingestellt sind, wir dürfen uns nicht täuschen: Als Erzieher darf ich und muß ich auch die Naturgesetze berücksichtigen. Beide Welten, Natur und Übernatur, müssen wir miteinander vereinen. Oder müssen wir uns denn nicht vielfach fragen: War denn die Gnade wirklich so stark wirksam in uns? Warum? Weil sie unsere Natur nicht nach gesunden Gesetzmäßigkeiten in Bewegung gesetzt hat. Müssen wir nicht manchmal sagen, unsere Natur sei wie ein Papierkorb aufzufassen, der all die einzelnen Gnadenschnitzelchen in sich aufnahm, und da er voll war, haben wir ihn ausgeschüttet? Der Papierkorb ändert sich nicht. Ist er voll, dann wieder heraus damit! Da hat die Gnade weder die Funktion nach oben noch die nach unten vollzogen! So verstehen wir es, daß für viele Menschen die Gnade eine Last geworden ist, aber keine Lust für ihre Natur, oder daß die Entwicklung bei uns oft so bald schon aufhört. Wie wichtig ist es also, daß die Wirkweise des erlösten Menschen auch mitbestimmt werden muß von der Naturphilosophie! Ich könnte mir denken, daß die Jüngeren unter Ihnen ein verkümmertes Organ für die Gnade mitgebracht haben. Wer noch nicht das Zusammenbrechen seines eigenen Ringens nach langen Kämpfen erlebt hat, ob ein solcher das alles erfaßt, was wir hier durcharbeiten? Die volle innere Resonanz ist nur dort, wo einer ernst gestrebt und Zusammenbrüche erlebt hat. Wenn das noch nicht da ist, weiß ich: Die Saatkörner gehen noch nicht auf. Wenn wir uns fragen, woher es komme, daß wir oft so gar keinen Schwung haben, müssen wir dann nicht oft antworten: Es ist keine Berührung der Gnade mit der Natur vorhanden gewesen? Die Natur ist nicht von der Gnade in Bewegung gesetzt worden. Ich habe übersehen, daß auch die Wirkweise der Natur berücksichtigt werden muß beim gnadenhaften Wirken. Daher, auch daher kommt es, daß der Germane die Last der Gnade abwirft. Sie hat nicht die Natur durchtränkt, sie ist keine Lust der Natur geworden. Wo aber eine Seele sich so ganz organisch entwikelt, wie ist das etwas wunderbar Schönes, wenn die Natur von der Gnade ergriffen wird. Da gibt es dann einen endlosen Fortschritt. Der Einfluß der Gnade: Damit haben wir auch schon hervorgehoben, daß wir uns wie von der Natur so gleicherweise auch bestimmen lassen müssen von der Wirkweise der Gnade. Die Gnade hat auch ihre Gesetze, die berücksichtigt sein wollen, und die die Wirkweise des erlösten Menschen darum mitbestimmen: Es sind die immanenten Triebkräfte des Christentums, Gebet und Opfer. (Der Einfluß auf das Ziel des Wirkens) Der Einfluß der Gnade: Das Gesagte gilt auch von der Zielsetzung. Wer hat da mitzusprechen? Sie werden sagen, die Gnade. Das stimmt. Das Ziel für die Wirksamkeit des erlösten Menschen wird zunächst bestimmt durch die Gnade. Aber die löst die Naturgesetze nicht auf. Der Einfluß der Natur: Es hat also auch die Natur ein Wort mitzureden. Durch die Natur werden die allgemeinen Gesetze der Gnade individualisiert; denn die Gnade paßt sich ja der Natur an. Darum muß ich auch die Natur befragen für die Bestimmung des Zieles. In jedem Lebewesen ist die letzte Entfaltungsmöglichkeit, das letzte Ziel keimhaft in der Natur enthalten. Aber gerade hier hat auch die Zeit mitzusprechen, weil sie die Natur beeinflußt. Unter Natur verstehen wir also nicht bloß die Natur in individuo, sondern auch die Natur, wie sie durch die jeweiligen Zeitverhältnisse beeinflußt wird. Darf ich darum einmal versuchen, die bisherige Definition in der Richtung zu ergänzen. Wenn ich sagte: Das Wirken des erlösten Menschen ist die irdische Entfaltung des erlösten Lebens, so darf ich jetzt formulieren: Es ist die irdische, natur- und zeitbedingte Entfaltung des göttlichen Lebens. Naturbedingte Entfaltung: Wenn es keine Gnade gäbe, gäbe die Natur allein mein Ziel an. Es gibt aber Gnade und Gesetzmäßigkeiten der Gnade. Darum ist also die Bestimmung meines Zieles nur mitbedingt, mitbeeinflußt von der Natur. Darum sagen wir naturbedingte Entfaltung. Nehmen Sie das einmal als Gegebenheit. - Dieser Satz kann als leitmotivische Überschrift über dem kentenichschen Bemühen insgesamt stehen. Gleichzeitig gibt es zur "Anwendung" allerdings noch eine zweite "Überschrift": "Hinwendung", Hinbewegung des reflektierten Lebens auf die theologischen und philosophischen Vorgaben, wie sie im Raum des Christentums angetroffen werden. Kommt die eine Linie sozusagen von oben, so die zweite von unten.
- Das Denken geht hier vom Göttlichen zum Menschlichen. Dies ist auch der Hintergrund, wenn J. Kentenich im folgenden der Natur eine für damaliges theologisches Denken ungebührlich große Bedeutung gibt.
- J. Kentenich hat keine Berührungsscheu mit dem Wort "selbst". So redet er von Anfang an von Selbsterziehung, auch von Selbstheiligung. Ebenfalls ist Selbstverwirklichung ein frühes Wort bei ihm. Er will das Selbst stärken und erziehen. Er hat einen ausgesprochen psychologisch-pädagogischen Blickwinkel. Aber ebenso steht für ihn sehr "selbstverständlich" und gleichzeitig klar reflektiert die Überzeugung im Hintergrund, daß Gott alles tut. Dies schließt für ihn aber nicht aus, daß auch der Mensch alles tut. Entsprechend seiner "organisch einseitigen" Sprechweise wird dann oft nur jeweils eines genannt.
- Der Kurs über den Erlösten Menschen setzt sich in sehr mutiger Weise mit den Selbsterlösungslehren des Nationalsozialismus auseinander. J. Kentenich lehnt diese klar ab. Und doch läßt er sich auch anfragen. Immer wieder kommt er auf sein Thema: Das Christentum ist vielfach zu übernatürlich und zu unnatürlich (siehe die Texte von Punkt 3). So bleibt die Natur draußen und wird leichte Beute von Lehren, die sich einseitig an sie allein wenden und ihre Bedürfnisse gegen das Christentum ausspielen
- Die Gnade zerstört die Natur nicht, sondern vervollkommnet und erhöht sie.
- Siehe die beiden Texte über das "Weltanpassungsgesetz" (VIERTER SCHWERPUNKT (Organismuslehre). Man beachte den Begriff von Natur, der hier vorliegt. Er schließt individuelle, soziale und von der Zeit betroffene Natur ein. Dazu der Hinweis auf das "Gesunde". In der Vollentfaltung des Gesunden in der Natur soll die Gnade erfahren werden, auch wenn diese nicht identisch ist mit dieser Vollentfaltung. Pater Kentenich kennt natürlich auch die kranke Natur. Aber nicht nur diese ist offen für die Gnade, wie manche Behauptungen es manchmal zu denken nahelegen.
Aus: Textsammlung zum Thema "Mystik" bei Pater Kentenich Zusammengestellt von P. Herbert King |