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[[1]] Santiago, den 13. Mai 1952
Lieber Joseph!
In meiner Antwort auf Rudolfs[1] Bericht vom 28. April 1952 über die Geschichte des Generalstatuts versprach ich meine ausführlichere Stellungnahme, sobald der Entwurf in meinen Händen wäre. Nach einer Wanderung durch Buenos Aires hat dieser mich inzwischen glücklich erreicht. Pater General[2] sandte ihn mir zu. Rudolf schrieb in Ihrem Namen; so wird es ihm recht sein, wenn ich meine Auffassungen unmittelbar an Sie adressiere.
Am Kopf des Statuts steht das Wort »Entwurf«. Füglich ist die endgültige Fassung noch nicht besiegelt, und Überprüfungen und Vorschläge nach rechts und links, nach oben und unten sind erlaubt und erwünscht. Nicht nur der Episkopat, sondern auch die interessierten und betroffenen Kreise dürfen sich zur Stellungnahme aufgerufen fühlen.
Unsere Verbandspriester haben das bedeutsame Ereignis wie einen Schreckschuß aufgefaßt. Sowohl Generalrat wie Gefolgschaft beschäftigen sich nunmehr angelegentlichst mit der organisatorischen und lebensmäßigen Zukunft des Verbandes, der Priestersäule und des ganzen Schönstattwerkes. Rudolf macht bereits aufgrund der ausgearbeiteten Vorlage und geschichtlichen Ereignisse und Erinnerungen auf die Gefahr einer starken /
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Gereiztheit, Mißstimmung und gegenseitiger Anklagen aufmerksam. Das alles fürchte auch ich - offenbar nicht mit Unrecht. (...)
So wird es denn gut sein, wenn wir nach der Wahlmethode des heiligen Ignatius zunächst im Sinne der heiligen Indifferenz jeden Affekt zum Schweigen bringen[3], um so fähig zu werden, Gottes Planung eindeutiger zu erfassen, sie von menschlicher Eigenmächtigkeit und Eigenbrötelei zu lösen und uns für ihre Verwirklichung vorbehaltlos einzusetzen.
Thema der Studie
Lassen Sie mich zu diesem Zwecke die metaphysische Grundlage des ganzen Schönstattwerkes kurz auseinandersetzen. Sie mögen dann prüfen, ob Sie damit einverstanden sind und sie als Schlüssel für Entschleierung einer göttlichen Planung sowohl der Gesamtstruktur der Familie als auch der Einzelzüge auffassen können. Gehen wir alle von einem anerkannt gemeinsamen Standorte aus, so dürfte es leicht sein, Klarheit in das Gewirre der Meinungen und Stimmungen zu bringen, um so in den Stand gesetzt zu werden, wieder unsere ganze Kraft zum positiven Aus- und Aufbau des ganzen Werkes zu gebrauchen. Nachdem ich diese Sätze geschrieben habe, fliegt mir auf Umwegen eine kurze Notiz auf den Tisch:
»Das Wichtigste: Das Statut stößt bei den Bischöfen auf große Schwierigkeiten. Sie sehen sich durch das ganze Gewirre nicht richtig durch, haben Angst vor so vielen Paragraphen und scheuen sich, einem so weitverzweigten Ding ihre Zustimmung zu geben (...) (2. Mai).«
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Wie den Bischöfen, so dürfte es auch vielen Gliedern und Mitgliedern unserer Bewegung gehen. Nur wer den Schlüssel zu den vielen verschlossenen Toren unserer rätselhaft erscheinenden Organisation in der Hand hat, wer den Ariadnefaden festhält, der durch das Labyrinth von Einzelbestimmungen zielsicher hindurch geleitet, wer das letzte Prinzip kennt, aus dem alle einzelnen Paragraphen herausfließen, wem die [[2]] Wurzel bekannt ist, aus der der machtvolle und vielverzweigte Baum herauswächst, in dem die Vögel des Himmels nisten sollen[4], kann sich in dem reich verwickelten Gewirre des Satzungsentwurfes durchsehen und selbständig Stellung dazu nehmen. Das ist ein neuer Grund, der uns antreiben mag, von der Peripherie zum Zentrum, von der Schale zum Kern, vom Gebäude zum Fundament, vom Baum zur Wurzel, vom Gesamtgefüge der äußeren Erscheinung zum letzten metaphysischen Organisations- und Lebensprinzip vorzudringen.
Begründung
An sich könnte ich mit der Arbeit warten, bis ich den neuen Entwurf in Händen habe, oder besser noch, bis die letzte Kodifizierung fertig ist. Aus vielen Gründen dünkt es mich aber besser, jetzt schon meinen Vorsatz auszuführen. Als ich Rudolf unter dem 8. Mai 1952 schrieb, beschäftigte ich mich bereits mit diesem Plan. Seite 6 lesen Sie:
»An sich wäre es nun am Platze, Ihnen die großen inneren Zusammenhänge des von mir geschauten Leitbildes des näheren auseinanderzusetzen. Im Interesse prinzipieller Schulung wäre das von Bedeutung.«
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Da haben Sie den ersten Grund: Solche Schulung ist allezeit bedeutsam und empfehlenswert. Das gilt besonders im Zeitalter des Irrationalismus, doppelt und dreifach jedoch, wo es sich um ein so außergewöhnlich starkes Gewirre von Fäden handelt und ernstlastende Verantwortung zu einer Mitentwirrung verpflichtet.
Damit berühre ich bereits einen zweiten Grund: Sollen wir vor Gott und Geschichte bestehen können, soll das ganze Werk unser Gesicht tragen, aus unserem Fleisch und Blut geformt sein, so müssen wir das Unsere zum Gelingen beitragen. Das kann aber nur geschehen, wenn wir unsere Vorschläge und Entschlüsse aus letzter Zusammenschau heraus sehen und fassen.
Nur so dürfen wir eine innere geistige Einheit erwarten, ein überzeugtes gemeinsames Ja zu Organisation und Leben sprechen. Das mag als dritter Grund gebucht werden.
Ein vierter Grund liegt in der Tatsache, daß Rudolf in seinem geschichtlichen Überblick über das Werden des Satzungsentwurfes meine genauere Kenntnisnahme voraussetzte. Ich hatte ihn aber bei meiner Antwort nicht in Händen, war also auf seine Rekonstruktion aus ganz wenigen Andeutungen angewiesen. Der fertige Entwurf zeigt aber in vielen Dingen ein anderes Gesicht, als ich es aufgrund des Briefes voraussetzte. Wenn auch meine Antwort überall grundsätzlich ausgefallen ist und deswegen als überzeitlich aufgefaßt werden muß, so ist es doch nicht jedermanns Sache, sie selbständig auf den nunmehr vorliegenden Entwurf mit seinen einzelnen Prägungen anzuwenden. Was das zu besagen hat, wird in der Folge deutlich in Erscheinung treten.
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Ein letzter Grund liegt in der gefährdeten Existenz des Verbandes. Wie weit meine Befürchtungen nach der Richtung stimmen, werden Sie inzwischen festgestellt haben. Unterließen Sie es, so darf ich Sie bitten, es recht bald und gründlich nachzuholen. (...) Für Sie hängt ja alles davon ab, ob der Episkopat dem Verband die Approbation verweigern will oder nicht. Das Generalstatut nimmt zwar in positivem Sinne dazu Stellung; damit ist aber über die Auffassung des Episkopats noch nichts Sicheres ausgesagt. Die vorgebrachten Schwierigkeiten können nur überzeugend gelöst werden, wenn der Verband in sich und in seiner Beziehung zu Bund und Liga und Episkopat aus diesen letzten Prinzipien heraus in seiner Zielgestalt und Struktur bestimmt wird. Wenn die Zeit reicht, will ich später darauf ausführlich eingehen.
Führe ich meinen Vorsatz aus, so will ich keineswegs zu [[3]] der Frage Stellung nehmen, ob das Generalstatut nicht besser kürzer gefaßt und durchsichtiger geformt werden sollte. Das schreibe ich mit einem Seitenblick auf die oben angedeutete Angst der Bischöfe vor so vielen Paragraphen und auf ihre Scheu vor der Zustimmung zu einem so weitverzweigten Ding.
Aus: Joseph Kentenich, Das Lebensgeheimnis Schönstatts. I. Teil: Geist und Form, Vallendar-Schönstatt 1971, 242 S. www.Patris-Verlag.de
[1] Rudolf Klein-Arkenau (1895-1963), damals Rektor der Marienau und mitverantwortlich in der Leitung der Priestergemeinschaft. [2] P. Turowski (1894-1959), General der Pallottiner 1947-1953. [3] Vgl. Ignatius von Loyola, Exerzitien, Nr. 23. [4] Vgl. Mt 13,22 par.
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