Sehen Sie, diese Genialität der Naivität schließt im Kern eine doppelte urgewaltige Kühnheit in sich: die Kühnheit des Heiligen und die Kühnheit des Sünders. Das ist gleichbedeutend mit der Kühnheit der Magnanimitas und der Kühnheit der Humilitas. Erstens: Die Kühnheit des Heiligen. Die Kühnheit der Magnanimitas kennt die Kühnheit des Verstandes, des Willens und des Herzens. Der Verstand beugt sich gläubig einer jenseitigen, übernatürlichen Wirklichkeit. Der heilige Augustinus hat uns das klassische Wort überliefert: »Du, o Gott, warst bei mir, ich aber war außer mir.« Die Kühnheit des Heiligen wagt den Todessprung für den Verstand und sieht im Lichte des Glaubens überall Gott. Sie sieht nicht nur den Gott des Herzens, nicht nur den Gott unserer Altäre, sondern auch und vor allem den Gott des Lebens, den lebendigen Gott, der hinter jeglichem Geschehen und hinter allen Erscheinungen und Ereignissen des Lebens steht(7). Jede Situation des Lebens wird kraft dieser Kühnheit aufgefaßt wie ein Dom, auf dessen Spitze der lebendige Gott steht. Die Kühnheit besteht darin, daß in allen Lebenslagen gleichsam die »Leiter« angelegt wird für den Verstand und das Herz, um auf der Spitze Gott zu entdecken(8). Nach dem »Gesetz der geöffneten Tür« wittert, schaut diese Kühnheit im Dunkel des Glaubens den lebendigen Gott auch dort, wo nur ein Spalt in der Türe offen ist(9), und weiß sich todesmutig hineinzuwerfen in die Arme des lebendigen Gottes. Sehen Sie: das ist der Abgrund vom Diesseits zum Jenseits. Existentialisten, wie sie heute auf unseren Universitäten am Werden und Wachsen sind, kennen auch eine Kühnheit. Auch sie sehen das Leben in seiner furchtbar verwirrten und verworrenen Situation und wissen, daß das heutige Leben Kühnheit verlangt(10). Das ganze Leben ist für sie ein »Sein zum Tode«. Und die Kühnheit, mit der dieses Leben gemeistert werden soll, ist eine Kühnheit der Verzweiflung. Anstatt daß ich mich kühn in den Abgrund Gottes hineinwerfe, besteht meine Kühnheit darin, daß ich die Zähne aufeinanderbeiße und mich mit dem Mut der Verzweiflung in diesen Strudel, auf diese Eisscholle im Strom hinauswage(11). Die Kühnheit des Heiligen wagt den Todessprung in die Arme Gottes, den Todessprung des Herzens, den Todessprung des Willens. - Sicher weiß diese Kühnheit um das Gesetz Gratia supponit non destruit naturam. - Die Gnade setzt die Natur als Träger, aber auch als mitwirkende und zielgebende Kraft voraus und zerstört sie nicht. Die Kühnheit des Heiligen weiß aber auch, daß das Ideal des Menschen nicht bloß darin besteht, den Ecce homo insofern darzustellen, als es sich um die Naturerhöhung und Naturvollendung handelt, sondern sie weiß auch um die Naturopferung(12). Die Kühnheit des Heiligen besteht darin, daß er den Mut hat, auch auf den Trümmern der kranken Natur ein »neues Gebäude« zu errichten. Ferner: Die Kühnheit des Heiligen sieht im Lichte des Glaubens nicht bloß die majestas divina; sie beugt sich auch vor dem Christus crucifixus. Sie will der Welt gekreuzigt sein, wie die Welt ihr gekreuzigt ist(13). Mit Paulus weiß diese Kühnheit allüberall Christus, »und zwar Christus als den Gekreuzigten«, zu künden (1 Kor 2,2). Wenn ich als katholischer Erzieher diese Zielsetzung sehe und immer vor Augen haben, klingt das nicht ganz anders, als wenn ich immer bei den allgemeinen Gedankengängen stehenbleibe, wie sie heute in der pädagogischen Situation wieder und wieder zu finden sind! Noch einmal: Genialität der Naivität! Mit der Kühnheit des Heiligen steht gleichzeitig vor uns die Kühnheit des Sünders. Zur Magnanimitas gehört die Humilitas! Wie bedeutungsvoll ist heute die Kühnheit des Sünders, die die Sünde nicht bagatellisiert und spielerisch auffaßt! Nein, nein, sie erfaßt die Sünde vielmehr in ihrem Gewicht - pondus peccati -, nicht bloß als eine Verletzung des Gesetzes, sondern als eine persönliche Beleidigung der majestas divina. Die Kühnheit des Sünders wagt auch - nachdem die Sünde geschehen ist - kraftvoll Buße zu tun. Das ist die »Kühnheit des Räubers«, so wie sie in Calderons »Räuber« dargestellt wird, wo von der Andacht zum Kreuz die Rede ist. Der Räuber hat gesündigt, Sünde auf Sünde gehäuft. Er kommt zum Sterben. Nun die Kühnheit des Sünders: »Das Himmelreich leidet Gewalt« (Mt 11,22). Der Räuber hat die Kühnheit des Vertrauens: Er umarmt das Kreuz. Das Kreuz hat die Kraft, ihn zu entsühnen, ihn zu befreien. Das ist der ungeheure Abgrund, in den wir hineinspringen: der Abgrund der Glaubenswirklichkeit. Wir heutigen Menschen kennen ihn verzweifelt wenig; auch wir, die wir uns katholisch nennen, sind viel zu naturalistisch eingestellt. Die Pest des Naturalismus, die Pest des Laizismus findet sich auch dort, wo es sich um tief religiöse Menschen handelt, etwa um solche, die vielfach durch die Schule der Liturgie gegangen sind. Sie gehen mutig bis zum Abgrund; und wenn es hineingehen soll in den Abgrund der »Arme Gottes«, dann springen sie wieder rückwärts. Der Sprung ins Übernatürliche ist das, was wir unserer Jugend heute darstellen müssen: den Todessprung ins Übernatürliche, ins Göttliche. Sicher, - wir fallen unweigerlich in die Hand Gottes ... Aber das ist ja das Wagnis: Ich weiß nicht, was der Herrgott morgen, übermorgen von mir verlangt; - ich weiß nur diesen einen Schritt. Glaubensmutig wage ich diesen Schritt und bin überzeugt: Gott wird mir das Türchen wieder öffnen. Das ist und bleibt halt der Wagemut, die Kühnheit des Heiligen, die Kühnheit des Sünders. 7. Vgl. S. 54. 8. Vgl. Pater Josef Kentenich: Aus dem Glauben leben - Predigten in Milwaukee (in lfs. Bänden), Vallendar-Schönstatt 1969 ff. 9. Zum Gesetz der geöffneten Tür vgl. Paulus: 1 Kor 16,8 f.; 2 Kor 2,12. 10. Vgl. u.a. Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, im Vorentwurf: Der philosophische Glaube, 1948. 11. Vgl. Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? - Antrittsvorlesung von 1929 in Freiburg, Frankfurt 1965, S. 15. 12. Vgl. Für eine Welt von morgen, S. 34 ff. 13. Vgl. Gal 6,14. Aus: Josef Kentenich Grundriß einer neuzeitlichen Pädagogik für den katholischen Erzieher. Pädagogische Tagung 1950 Vallendar 1971, 290 S. ISBN: 978-3-920849-06-5 S. 138 - 141 Zum Online-Angebot des Verlags |