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Haus Moriah Nachrichten Erzbischof Zollitsch - 20.09.2010 - DBK

Zukunft der Kirche – Kirche für die Zukunft

Plädoyer für eine pilgernde, hörende und dienende Kirche

Impulsreferat  des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,  Erzbischof Dr. Robert Zollitsch,  zur Eröffnung der Herbst-Vollversammlung  der Deutschen Bischofskonferenz  in Fulda am 20. September 2010

(Zoll 09 hp.jpg; 29 kB)
 

Sehr geehrte, liebe Mitbrüder,

in ihrem Buch „In fremder Welt zu Hause“[1], das Bischof Joachim Wanke  zusammen mit Pater Manfred Entrich OP zu Beginn unseres neuen  Jahrhunderts publiziert hat, geben die Autoren Impulse für eine innovative und  in die Zukunft blickende Seelsorge. Es geht um das, was wir auch mit der  Gründung unserer neuen „Katholischen Arbeitsstelle für missionarische  Pastoral“ im Januar dieses Jahres verstärken wollten und was bei der Tagung  Anfang September in Erfurt intensiv diskutiert wurde. Es geht um die  „Herausforderungen einer missionarischen Pastoral“. Wir wollen unsere  Seelsorge deutlicher missionarisch ausrichten. Wir wollen uns stärker auf die  Menschen zubewegen und den Gläubigen noch mehr Weggefährten sein.  Dabei wissen wir, dass wir einen Auftrag haben; wir wissen, dass das  Evangelium, das zu verkünden uns aufgegeben ist, über diese Welt hinaus  weist. Wir spüren, dass wir in dieser Welt fremd sind. Zugleich ist uns  aufgetragen, in dieser Welt zu wirken und so in ihr auch ein Stück weit  heimisch zu werden.   Die These „In fremder Welt zu Hause“, die in dem Buchtitel enthalten ist, erinnert uns daran,  dass wir uns in dieser Welt nicht festsetzen dürfen. Wir sind Pilger und spüren die Spannung,  die Dualität von Fremde und Heimat. Zugleich wissen wir um den Auftrag Jesu, der „für die  Kirche besagt“, so formuliert es Papst Paul VI. in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii  nuntiandi“, „die Frohbotschaft in alle Bereiche der Menschheit zu tragen und sie durch deren  Einfluss von innen her umzuwandeln und die Menschheit selbst zu erneuern“[2]. Dabei sind wir  uns dessen bewusst, dass diese Erneuerung bei uns selbst anfängt, dass wir selber Pilger auf  dem Weg sind zu jener Heimat, die uns Gott verheißen hat.[3]

1. Kirche als Pilgerin unterwegs

Im elften Kapitel des Hebräerbriefes rühmt der Verfasser den Glauben der Väter. Abraham,  der Urvater der Glaubenden, ist Pilger: „Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf,  wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu wissen,  wohin er kommen würde“ (Hebr 11,8). Der Auszug der Israeliten aus Ägypten ist der Beginn  einer vierzigjährigen Pilgerschaft durch die Wüste. Israel ist das pilgernde und von Gott  geführte Volk. Als Christen wissen wir, dass unsere Heimat im Himmel ist und dass wir mit  dieser Verheißung als Pilger unterwegs sind. Sie verlangt von uns Mut und Vertrauen, uns auf  das Wagnis und die Unsicherheit, die damit verbunden sind, einzulassen. Christlicher Glaube  ist Pilgerschaft. Dazu gehört Aufbruch. Pilgerschaft und Aufbruch vertragen sich nicht mit  Sesshaftigkeit. Wir haben die Zusage, dass Gott uns hilft, dass wir uns im Aufbruch in die  Fremde nicht verlieren, sondern zu neuer Tiefe des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe  finden.

Mir scheint, liebe Mitbrüder, dass uns Gott gegenwärtig kräftig an unser Pilgerdasein erinnert.  In die Fremde unserer Gegenwart schickt er uns, um auszuloten, wo wir in ihr neu Heimat  finden können. Dem Leben der Kirche sollen wir ein neues Gesicht geben. Stagnation wäre  Verrat. Nicht wir dürfen auf die Welt warten, als müsse diese zu uns kommen. Vielmehr  müssen wir zur Welt gehen: zum Menschen von heute. Das Zweite Vatikanische Konzil  spricht wiederholt vom „pilgernden Volk Gottes“[4]. Steter Aufbruch und stete Erneuerung sind  Grundbedingungen lebendigen Glaubens. Es gibt kein Reich Gottes, über das wir einfach  verfügen könnten. Das Reich Gottes gewinnt Realität im Gang durch die Geschichte und beim  Zug in die immer neue Fremde. Das ist eine grundlegende Realität: Sie verweist uns auf das  Fragen und Suchen der Menschen und deren uns fremde Welt als Ort christlicher Sendung.   Die Evangelisierung der Welt verlangt eine Kirche der Pilgerschaft. Eine Kirche der  Sensibilität und des Respekts gegenüber dem Fremden.

Zu Recht sind wir stolz auf unsere Tradition, die gefestigten Überzeugungen und  Orientierungen. Und doch dürfen wir uns nicht einrichten in ihnen. Jesus hat nicht gesagt:  „Zieht euch in Stille zurück und wartet ab!“ Im Gegenteil: „Geht zu allen Völkern, macht alle  Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19); „Ich sende euch wie Schafe mitten unter die  Wölfe. [...] Fürchtet euch nicht (vor ihnen)!“ (Mt 10,16.26). Die Dynamik des Aufbruchs in  eine Welt, die zugleich Fremde und ein Stück zu Hause ist: Die Dynamik einer ständigen  Erneuerung, die uns in Bewegung hält. Das hat Kardinal Joachim Meisner beim  internationalen Priestertreffen in Rom zum Abschluss des Priesterjahres pointiert zum  Ausdruck gebracht: „Die Kirche ist die ‚Ecclesia semper reformanda‘, und darin sind der  Priester und Bischof ein ‚semper reformandus‘, der immer wieder – wie Paulus vor  Damaskus – vom hohen Ross gestoßen werden muss, um in die Arme des barmherzigen  Gottes zu fallen, der uns dann in die Welt hinein sendet.“[5]

Warum weise ich auf diese uns allen bekannten Zusammenhänge eigens hin? Wir spüren die  bohrende Frage nach der Glaubwürdigkeit unserer Kirche in Deutschland. Diese Glaub- würdigkeit hängt ab von der Lebendigkeit der Kirche, ihrer Fähigkeit zu Umkehr und neuem  Aufbruch und zu neuer Evangelisierung. Allerdings nicht im Geist einer Veränderung um  ihrer selbst willen, sondern aus der inneren Verbundenheit mit dem Herrn im Glauben. Eine  pilgernde Kirche ist unterwegs mit Christus und auf Christus hin. Als solche verdient sie dann  auch das Vertrauen der Menschen.

2. Kirche, herausgefordert in der Krise

In den vergangenen Monaten sind viele Menschen in ihrem Vertrauen in die Kirche  erschüttert worden. Nicht weil sie gleichgültig sind, sondern weil sie enttäuscht waren. Die  Menschen wollen uns vertrauen können. Sie suchen Hilfe und Orientierung in den großen  Fragen ihres Lebens. Sie wollen, wenn sie uns begegnen und uns Vertrauen schenken,  Christus selbst begegnen. Das gilt für unsere Gläubigen genauso wie für zahllose Menschen  außerhalb der Kirche. Sie wollen ganz konkret spüren und erfahren, was der neue Selige, John  Henry Kardinal Newman, zum Wahlspruch hatte: „Cor ad cor loquitur“ – Das Herz spricht  zum Herzen. Wir aber haben Zweifel aufkommen lassen an der Ernsthaftigkeit und Lauterkeit  unseres Redens und Tuns. Vor allem klagen uns Menschen an, die Opfer von Übergriffen  wurden. Darüber werden wir in den kommenden Tagen ausführlich sprechen.

Eines ist klar: Es gibt für uns keinen anderen Weg als den der Offenheit, der Ehrlichkeit und  den des Zuhörens. Wenn Opfer ihr Schweigen brechen und darüber zu sprechen beginnen,  wie sie erniedrigt und gedemütigt wurden, dann ist das für uns die Stunde des Anhörens und  Zuhörens. Stets beginnt die Umkehr des Gläubigen im Hören und Sehen des Nächsten,  besonders des Armen. Wir haben noch mehr zu lernen, eine Kirche des Hörens zu sein. Dabei  hören wir in diesen Wochen Vieles, das über den Bereich sexueller Verfehlungen weit  hinausreicht. Darunter sind auch Fragen, die uns lange vertraut sind. Zum Beispiel bohrende  Zweifel an der einen oder anderen Lehre der Kirche – etwa im Bereich der menschlichen  Sexualität. Viele stellen die Ehelosigkeit der Priester in der lateinischen Kirche massiv in  Frage oder nehmen Anstoß an manchen katholischen Positionen in der Ökumene. Wir müssen  entscheiden, wie wir mit dem Gehörten umgehen, auch mit unangenehmen Fragen.

Im Nachdenken über die Entwicklungen dieses Jahres sind mir einige Einsichten  zugewachsen, worin die tieferen Ursachen dieser Glaubwürdigkeitskrise bestehen, in der wir  stecken. Ich möchte drei von ihnen nennen.

Eine erste Ursache besteht, so scheint mir, in einer folgenschweren Verengung des  Verständnisses vom Menschen. Wir vergessen zu oft die Schwäche und Erlösungs- bedürftigkeit des Menschen. Wir lassen uns allzu sehr von einem unrealistischen  Optimismus leiten. Wir haben uns ja angewöhnt, sehr positiv über den Menschen, seine  Größe und seine Würde zu sprechen. Wir wollen in den gesellschaftlichen und politischen  Debatten die Würde des Menschen verteidigen. Und wir tun dies mit guten theologischen  Gründen. Gott hat den Menschen nach seinem Bild geschaffen (Gen 1,27). Daher  bekennen wir mit dem Beter der Psalmen: „Du hast ihn (den Menschen) nur wenig  geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ (Ps 8,6f.). Aber  schon auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift wird auch vom Scheitern des Menschen,  vom bösen Sinnen und Trachten seines Herzens gesprochen. Die Bibel weiß besser als das  optimistische Denken mancher moderner Geistesströmungen, dass die Welt nicht nur gut  ist und auch nicht durch menschliche Moralität in Ordnung gebracht werden kann. Der  Mensch ist immer auch Gefangener der Sünde. Er kann scheitern. Haben wir nicht die  Theologie des Scheiterns zu kurz kommen lassen? Ist sie nicht verkommen zu einer fast  leidenschaftslosen Rede über die Sünde? Haben wir nicht das Bild unserer selbst und der  Priester so stilisiert, dass der menschliche Abgrund übersehen wurde, vor dem unaus- weichlich auch der geweihte Mensch steht? Die Folge: Unehrliches Reden und Handeln,  Mangel an Offenheit und Wahrhaftigkeit, Neigung zum Überdecken von Fehlern und  Hinwegsehen über Verbrechen.

Ich sehe eine zweite Form der Überschätzung, die ebenfalls negative Folgen hat. Man sagt  über die Kirche – und meint oft konkret uns Bischöfe –, wir würden zu sehr als Wissende  und Lehrende und zu wenig als Lernende auftreten, meist als Sprechende und selten als Hörende. Man wirft uns mangelnde Lernbereitschaft vor und sagt, unsere eigene  Lebenswelt sei zu weit entfernt von der Lebenswelt der Menschen, sowohl in der Kirche  als auch insgesamt der Gesellschaft. Dahinter steht der Eindruck, wir seien zu wenig  vertraut mit der Welt als unserer Heimat in der Fremde. Oder auch die Einschätzung, wir  würden sie auf Distanz halten, um nicht ihre Aporien und Tragödien erkennen und nicht  die Konstrukte der Realität aufgeben zu müssen, denen unsere Zeitgenossen Realitätsferne  bescheinigen. Zwar weiß ich aus meinem eigenen Leben, wie oft und intensiv die  Bischöfe und Pfarrer das Dunkel der Schicksalsschläge, Verstrickungen und Schwachheit  von Menschen mittragen. Ich will aber auch nicht bestreiten, dass wir uns die Nachfrage  gefallen lassen müssen, ob wir in ausreichendem Maß Lernende sind, die bescheiden und  demütig in die Schule des Lebens gehen und nicht in allem immer schon Bescheid wissen.  Verschlossenheit und Realitätsferne aus Voreingenommenheit können zu Hartherzigkeit  führen. Die aber vertieft die Krise des Vertrauens und den Mangel an Glaubwürdigkeit,  dem wir begegnen.

Ich darf auf einen dritten Grund hinweisen für den Rückgang an Vertrauen gegenüber  unserer Kirche. Verlust von Vertrauen wiegt schwerer als der Mangel an Realismus, von  dem ich bislang sprach. Er betrifft den Kern unserer Sendung: Vielleicht wird heute zu  wenig deutlich, dass die Kirche anders ist als andere Vereinigungen. Vielleicht ist ihr  Bezug zu Gott nicht hell genug. Vielleicht vergessen wir die transzendenten Quellen, aus  denen die Kirche lebt. Es wäre eine Selbstsäkularisierung, würden wir in der Kirche vor  allem ihren Einsatz für die Gerechtigkeit und die effiziente Organisation der Pastoral  hervorheben und dabei das göttliche Licht unter den Scheffel stellen, das darin leuchtet.  Denn Gebet und Liturgie, Verkündigung des Glaubens und Zuwendung zu den Menschen  in Not offenbaren nicht nur Menschliches, sondern Göttliches. Der Herr selbst wirkt in der  Kirche. Wie in Christus Gottheit und Menschheit zwar unvermischt, aber eben auch  ungetrennt sind, so gehen die Liebe Gottes zu den Menschen und das Handeln der Kirche  eine untrennbare Einheit ein. In diesem Sinne nennt das Zweite Vatikanische Konzil die  Kirche ein Sakrament, und das heißt „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung  mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“[6]. Vertrauen wird man der Kirche  dann schenken, wenn sie authentisch sie selbst ist: eine spürbare und glaubwürdige  Einheit von Göttlichem und Menschlichem, wie sie die Menschen auch in der Gegenwart  suchen und ersehnen. Ursachen eines Mangels an Vertrauen in die Kirche sind neben anderen auch diese drei  Faktoren: die Überschätzung des Menschen und Überforderung des Priesters, eine mangelnde  Lernbereitschaft in der Kirche und mangelnde Transparenz auf Gott hin. In vielen  Begegnungen und Gesprächen der letzten Monate hat es mich geschmerzt, dass nicht wenige Menschen mit dem Vertrauen in die Kirche auch den Glauben an Gott und die Hoffnung auf  seine beschützende Liebe verloren haben. Viele empfinden ihren ohnehin angefochtenen  Glauben nun noch schwächer als zuvor. Mag sein, dass es dafür in jeder einzelnen Biographie  viele Gründe gibt. Doch müssen wir eingestehen, dass auch das Handeln – oder eben auch das  langjährige Nicht-Handeln – der Kirche und Fehler und Fehlhaltungen unserer selbst den  Zugang zu Gott erschweren.

Ich sage das mit großem Nachdruck, um mich gegen die These abzugrenzen, in erster Linie  seien wir Opfer von Kräften, die uns gegenüber gegnerisch eingestellt sind. Es wäre im  Gegenteil eine Zuspitzung eines mangelnden Realitätssinnes, von dem ich gerade sprach,  wenn man annähme, in erster Linie sei alles vor allem von den Medien inszeniert, die eine  Schwächung der Kirche von außen herbeiführen wollen. Ich bestreite nicht, dass uns die  zurückliegenden Monate in krasser Weise die Ambivalenzen der Mediengesellschaft gezeigt  haben. Es gab auch einen Mangel an journalistischer Professionalität und fragwürdige  Polemik. Am Ende aber frage ich mich, ob uns nicht mehr als dies alles ärgern muss, dass es  nicht selten die Medien waren, die den Opfern eine Stimme gegeben haben – was eigentlich  unsere Aufgabe gewesen wäre. Klar: in der Gesellschaft stoßen wir auf Vorbehalte und  Ablehnung. Wir müssen ihnen entgegentreten, um nicht noch mehr das Vertrauen in den  Glauben zu schwächen. Zugleich aber gebietet es derselbe Glaube, mögliche Gründe für einen  Mangel an Vertrauen in die Kirche aufzudecken, die bei uns selbst gegeben sein könnten.

Dennoch: Eine Krise – und um die handelt es sich ohne Zweifel – ist eben auch eine Zeit der  Klärung, die viel zukunftsweisendes Potential haben kann. Man verabschiedet sich von  Illusionen und falschen Einschätzungen. Sie ist ein Impuls des Heiligen Geistes, eine  privilegierte Periode der Scheidung der Geister. Unser Pilgerweg geht ja weiter und unser  Blick ist dafür geschärft, wie er beschaffen sein wird.

3. Kirche in einem neuen Aufbruch

Eins ist klar: Aufbrauch verlangt eine konsequente Option für die Menschen. Ohne eine  positive und liebevolle Einstellung zum Menschen gibt es keine pilgernde und missionarische  Kirche. Gerade haben wir den 100. Geburtstag von Mutter Teresa begangen. Sie gehört zu  den leuchtenden Vorbildern des Glaubens im 20. Jahrhundert. Wir brauchen solche „burning  people“ wie sie, die sich verzehren und eindeutig die Liebe Gottes leben und bezeugen. Sie  steht für Wachheit, Achtsamkeit und Hinwendung zu den Menschen – gelebt aus den  Kraftquellen des christlichen Glaubens. Unser Alleinstellungsmerkmal ist es, dass wir die  Menschenliebe Gottes vergegenwärtigen. Darauf können wir nicht verzichten. Was ist dazu  konkret gefordert?

Wir haben den Blick dafür geschärft, dass wir den Weg zu den Menschen und die  Pilgerstrecke zum Herrn nur finden, wenn Bischöfe, Priester und Laien, Ehrenamtliche und  Hauptberufliche, auf authentische und enge Weise miteinander verbunden sind. Dialog und  gemeinsame Wegsuche sind unverzichtbar. Für alle gilt, was das Tagesevangelium heute sagt:  „Gebt also acht, dass ihr richtig zuhört“ (Lk 8,18). Papst Paul VI. hob in seiner  Antrittsenzyklika „Ecclesiam Suam“ die Chance und besondere Dringlichkeit von Gespräch  und Dialog hervor: „Im Dialog entdeckt man, wie verschieden die Wege sind, die zum Licht  des Glaubens führen, und wie es möglich ist, sie alle auf dasselbe Ziel hinzulenken. Auch  wenn sie voneinander abweichen, können sie doch zur Ergänzung beitragen, weil sie unsere  Überlegungen auf ungewohnte Bahnen lenken und uns zwingen, unsere Forschungen zu  vertiefen und unsere Ausdrücke neu zu gestalten. Die Dialektik dieses Denkens und dieser  Geduld lässt uns auch in den Meinungen der anderen Wahrheitselemente entdecken“.[7] Die  Wahrheit des Anderen aufnehmen und sie vom Anderen hören: Vielleicht müssen wir die  Chance und Herausforderung des Dialogs noch stärker wahrnehmen und schätzen. Um so  weit und weltoffen zu werden, wie es einer Kirche entspricht, die eben in der Fremde der  Welt nicht nur fremd, sondern auch beheimatet sein will. Weil wir Christen wissen, dass  Gottes Geist überall wirkt, brauchen wir keine Angst zu haben, uns selbst zu verlieren und  aufzugeben, wenn wir Brücken des Dialogs bauen. „Jede Wahrheit, von wem sie auch  verkündet wird, kommt vom Heiligen Geist“ – so sagt es der heilige Ambrosius.

Dialog lebt zunächst vom Hören, vom Zuhören, vom aufeinander Hören und aufmerksamen  Wahrnehmen des anderen und seiner Meinung. Damit der Dialog gelingt, braucht es ein  hörbereites Ohr, ein sensibles Herz und ein waches Gespür für die Zeichen der Zeit und die  Fragen der Menschen. Der Freiburger Religionsphilosoph Bernhard Welte hat die tiefsinnige  und bis heute gültige Beobachtung gemacht: „Es ist eine Gnade, auf einen Menschen zu  treffen, der die Kunst des guten Zuhörens wirklich vermag. Ja man kommt allmählich darauf,  dass gutes Zuhörenkönnen eine größere Kunst ist als gutes Redenkönnen.“[8] Es gibt freilich  eine noch tiefere Dimension des Zuhörens. Sie besteht darin, dass man Gottes Stimme  vernimmt und auf diese Weise mit ihm ins Gespräch kommen kann. Diese große Chance des  Hörens verdient Beachtung: Wer nur redet und nicht hört, verliert den Kontakt mit dem  Herrn. Er verschließt sich dem Heiligen Geist.

Liebe Mitbrüder, wir Bischöfe können mit gutem Beispiel vorangehen. Eine klare Option für  die Menschen ist eine klare Option dafür, ihnen Gehör zu schenken. Wir hören dann von  ihnen, dass sie ihr Heil suchen. Wie sie auf ihre Grenzen stoßen – die körperlichen, seelischen  und moralischen. Wir hören, wie sie hoffen, an diesen Grenzen nicht zu scheitern. Wie sie  ersehnen, ihrer Enge entkommen zu können, der Einsamkeit und Isolation, der Chancenlosigkeit und Ausgrenzung, dem immer wieder neuen Druck, sich beweisen zu  müssen. Wir lernen, wie sie nach einer Kraft, einem Heil und einem Leben hungern, welche  die Grenzen dieser Welt überschreiten. Wir erfahren von der Sehnsucht nach einem Leben,  das Gott aus dem Jenseits seines Lichtes schenken will. Die Menschen und die Welt haben  der Kirche Entscheidendes zu sagen. Sie sind die Welt, in der wir leben und verkünden, auch  wenn dies zunächst fremd erscheint. Natürlich müssen wir auch Fragen und Kritik anhören  und aushalten, auch solche die wir nicht annehmen wollen. Aber auch eine ungerechtfertigte  Kritik kann Ausdruck dafür sein, dass ein Mensch auf der Suche nach etwas Richtigem ist.  Dass er bei uns nicht oder noch nicht das findet, was er für sein Heil sucht. Das gilt es dann  auch ernst zu nehmen.

Es kommt sehr auf die enge Verbindung zwischen der Kirche einerseits und der Welt und den  Menschen andererseits an. Ein neuer Aufbruch der Kirche lebt von einer vertrauenswürdigen  Nähe und verlässlicher Verbundenheit zwischen Kirche und Welt. Lassen Sie mich im Blick  auf die Erfahrungen der letzten Monate drei Erfordernisse nennen, denen wir uns, wie ich  meine, verstärkt stellen müssen.

Kontinuierliches Fortschreiben einer neuen Praxis: In den zurückliegenden Monaten  waren rasche Reaktionen und neue Wege des Vorgehens der Kirche nötig. Das Aufdecken  des Versagens einer Reihe von Priestern und Ordensleuten hat Fehler in der  Wahrnehmung, Beurteilung und Reaktion zutage gefördert. Wir haben Opfern zu wenig  zugehört, Fehler falsch beurteilt und unser Handeln, wie andere auch, oft zu sehr darauf  ausgerichtet, dass das Ansehen der eigenen Institution, der Kirche, bewahrt bleibe. Die  Zuwendung zu vielen Menschen war zu oft misslungen. Wir haben erste Korrekturen  vollzogen. Dafür sind die Einrichtung der Hotline oder die Verbesserung der Leitlinien  gute Beispiele. Doch sind wir damit nicht am Ende. In diesen Tagen werden wir über  Grundsätze zur Prävention sprechen und uns von ersten Überlegungen berichten lassen,  welche freiwilligen Leistungen zum Ausdruck bringen können, dass wir das Unglück und  Leid wahrnehmen, die Mitarbeiter der Kirche jungen Menschen zugefügt haben. Aber wir  müssen auch danach noch weitere Schritte tun. In den Beratungen der Herbst- Vollversammlung geht es vornehmlich darum, dass wir diesbezüglich klare Signale  geben. Wir sind aufgeschlossen für Veränderungen, die uns als Kirche stärker machen,  weil sie uns enger mit Gott, wie auch enger mit den Menschen und der Welt von heute  verbinden.

Offenheit in der Reflektion: Den Reflektionstag werden wir dazu nutzen, uns  Rechenschaft zu geben über den Vertrauensverlust, der in Publizistik und Umfragen wie  auch in zahllosen Einwürfen von Gläubigen sowie nichtkirchlichen Personen seinen  Niederschlag gefunden hat. Wir werden ungeschminkt ausleuchten, wie wir als Kirche in Wort und Tat mit dem Vorwurf umgehen müssen, es gebe in ihr zu wenig Transparenz  und zu viele Denk- und Diskussionsverbote.  Gelingen kann das jedoch nur, wenn wir offen und angstfrei miteinander reden. Der neue  Aufbruch, den wir suchen, beginnt bei uns selbst! Wir brauchen eine vertiefte Selbstvergewisserung über uns selbst, besonders darüber, was wir als Bischöfe zu tun  haben: im eigenen Bistum, in der Bischofskonferenz und in der Weltkirche, auch in Bezug  auf die Einheit mit unserem Heiligen Vater. Wir haben diese Reflektion über uns selbst  bislang selten angestellt. Auch nicht über unser Kommunikationsverhalten. Unsere  öffentliche wie auch die interne Kommunikation war nach meinem Eindruck im ersten  Halbjahr nicht gerade vom Gedanken der Communio geleitet und kaum aufeinander  abgestimmt – um es milde zu sagen.

Bewusster dienende Kirche sein. Jeder von uns, liebe Mitbrüder, wurde, bevor er die  Priester- und Bischofsweihe erhielt, zum Diakon geweiht. Dies will uns bleibend daran  erinnern, dass Jesus Christus „nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern  um zu dienen“ (Mk 10,45). Bischof Joachim Wanke weist in seinem Artikel „Gott  bezeugen und den Menschen dienen“[9] im „Rheinischen Merkur“ im Juni dieses Jahres zu  Recht darauf hin, dass eine Erneuerung der Kirche zu einer neuen Glaubwürdigkeit nach  außen und zu einer neuen Zuversicht nach innen führen soll. Der Weg dazu sei eine  zündende Vision. Und er schlägt vor: „Die Vision einer den Menschen dienenden Kirche“.  Zweifellos leisten gläubige Christen und viele kirchliche Einrichtungen zahllose Dienste  in und an unserer Gesellschaft. Dies darf und soll auch gesagt werden.[10] Doch es kommt  darauf an, dies mit „demütigem Selbstbewusstsein“ zu sagen und zu tun. Ein Glaube, der  von der Liebe getragen ist und sie aufscheinen lässt, kann Menschen ansprechen und  überzeugen. Eine in dieser Weise demütig dienende und sich dabei (zumindest ab und zu)  selbst vergessende Kirche kann, so Joachim Wanke, zukunftsweisend sein für unsere  Kirche in Deutschland.

4. Weitere Schritte wagen

Trotz allem beginnt unser Nachdenken, beginnt unser Dialog – Gott sei Dank – nicht am  Nullpunkt. Als Bischöfe stehen wir vielfach in persönlichem Kontakt zu Menschen, wir hören  ihre Geschichten und helfen in der Seelsorge, wo es geht. Viele von uns haben in persönlichen  Begegnungen mit Einzelnen, in Gremien, bei öffentlichen Veranstaltungen oder über moderne  Kommunikationswege die Möglichkeiten des Dialogs erprobt. Dies alles wird und muss  weitergehen. Doch glaube ich, dass wir gemeinsam noch einen weiteren Schritt wagen sollten.

Es braucht, so meine ich, einen neuen, gemeinsamen und zielgerichteten Gesprächsprozess,  wenn wir unbeirrt in die Zukunft gehen wollen. Warum sollten wir den Reflektionsprozess  dieser Vollversammlung nicht fortführen in einem breiteren Reflektionsprozess in der Kirche  in Deutschland insgesamt? Wir spüren in vielen Zuschriften, Leserbriefen, Artikeln und noch  mehr in den persönlichen Gesprächen, dass viele Priester, Diakone, Ordensleute und Laien  unsicher geworden sind. Wir machen aber auch die Erfahrung, dass viele von ihnen mit  großem Ernst und – um es mit diesem etwas aus der Mode gekommenen Wort zu sagen – in  Liebe zur Kirche nach Wegen suchen, wie die Kirche ihrer Sendung auch in gewandelter Zeit  gerecht werden kann. Jeder von uns kennt Menschen, die in den verschiedenen Gebieten des  gesellschaftlichen Lebens Herausragendes leisten und der Kirche ihre Hilfe und ihren  Sachverstand anbieten – aus Respekt und unabhängig von ihrer eigenen Gläubigkeit. Warum  sollten wir sie nicht in diesen Reflektionsprozess hinein nehmen? In unseren Orden, in den  geistlichen Gemeinschaften, den Vereinigungen und Initiativen, den katholischen Verbänden,  in unseren Priesterräten, den Diözesanräten und im Zentralkomitee der deutschen Katholiken  haben wir engagierte und qualifizierte Weggefährten.  Warum sollten wir nicht dazu einladen, dass sich viele in Wahrhaftigkeit, Mut und Klugheit  an diesem Nachdenken beteiligen – und zwar die Priester, Diakone, Ordensleute und die  „Laien“, die oft Experten sind. Das Konzil hat es den Laien ausdrücklich aufgetragen, ihren  Sachverstand zum Wohl der Kirche einzubringen: „Entsprechend dem Wissen, der  Zuständigkeit und hervorragenden Stellung, die sie einnehmen, haben sie die Möglichkeit,  bisweilen auch die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu  erklären.“[11]

Mir schwebt ein solcher Gesprächsprozess vor, über dessen genaue Ausgestaltung auf der  Ebene der Bistümer und auf der Ebene unserer Bischofskonferenz wir uns freilich weiter  Gedanken machen müssten. Ich weiß, dass ein solcher Prozess nicht zu unrealistischen  Erwartungen führen und die Teilnehmenden nicht überfordern darf. Vorrangig müssen in  diesen Tagen zunächst einmal wir selbst uns klar machen, dass wir eine kommunikative  Initiative solcher Art ergreifen wollen. Was zur Folge hätte, dass wir auch diejenigen sind, die  Verantwortung übernehmen für Form und Gestalt und Konsequenzen dieses Prozesses: Es  geht um den Pilgerweg der Kirche in unserer heutigen Welt – konkret und in Orientierung am  Leben der Menschen von heute. Es geht um mehr als bloß Reparaturen: Es geht um die  Verlebendigung des kirchlichen Lebens.

Lassen Sie mich einige Beispiele für mögliche Themen nennen. Wir stoßen immer wieder auf  Herausforderungen, vor denen unsere Verkündigung heute steht. Es gibt die vielgestaltige  Frage nach dem Glauben; sie verbirgt sich oft hinter anderen Fragen. Die geistige Not vieler  Menschen ist groß: Was muss geschehen, damit unsere Verkündigung heute verstanden wird?  Damit wir mit Freude und mit Schwung Verkünder sein können – und zwar Laien und  Priester gemeinsam. Oder: Unsere Gemeinden sind im Umbruch. Das Profil des Pfarrers und  Priesters und die Anforderungen an ihn ändern sich – auch im Hinblick auf eine mit den Laien  geteilte Verantwortung für die Kirche. Die Menschen haben sich geändert – auch die  Katholiken. Ihre Sprache ist anders als früher; nicht selten hat sich ihre Frömmigkeit geändert,  auf jeden Fall sind ihr Leben und ihr Zusammenleben, ihre Bindungen und ihre  Bindungsbereitschaft anders geworden. Wie können wir unsere Überzeugungen werbend und  befreiend mit ihnen teilen? Auch in den ganz persönlichen Bereichen von Partnerschaft, Ehe,  Familie und Sexualität? Oder: Wie kann eine Kommunikation aussehen, die das Gespräch  zwischen Bischöfen, Priestern und Gläubigen dauerhaft auf eine bessere Grundlage stellt?  Und was erwarten die Menschen wirklich von uns, was schulden wir ihnen? Wissen wir das  wirklich? Oder glauben wir nur immer schon, es zu wissen, weil wir nicht selten seit  Jahrzehnten immer nur die Fragen hören, an die wir uns gewöhnt haben?  Wichtig ist der Austausch über Hintergründe und Argumente für verschiedene Positionen.  Wir müssen darüber reden, warum wir die Dinge so sehen, wie wir es tun. Und wir müssen  verstehen, warum andere in derselben Sache zu anderen Positionen kommen. Nur so können  wir die richtigen und in die Zukunft weisenden Antworten finden, die wir schuldig sind – und  dies auf eine Weise, die verständlich ist.

Ich erwarte mir in diesen Tagen eine Meinungsbildung, ob die Zeit für einen solchen Prozess  reif ist. Seine Ausgestaltung würde eine Reihe von Detailfragen aufwerfen, die eine ruhige  Klärung erfordern. Welche Formen der Beteiligung sind vorzusehen? Wie kann man das  Gespräch konstruktiv strukturieren? Vor allem in Bezug auf seine Themen. Welche Rolle  können dabei neue Medien spielen? Welche Unterstützung durch unsere Mitarbeiter oder  sonstige Personen wäre nötig? Welche Hilfe kann und will die Steuerungsgruppe leisten, die  mit unseren Mitbrüdern Erzbischof Reinhard Marx, Bischof Franz-Josef Bode und Bischof  Franz-Josef Overbeck bestens besetzt ist? Wir haben sie beauftragt, sich mit dem Dienst der  Kirche im öffentlichen Leben Deutschlands zu beschäftigen.

5. In der Gemeinschaft des Glaubens

Ich möchte meine Analyse der Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch vertiefen.  Dabei gehe ich über die Erfahrungen der letzen Monate und auch die vielen Anfragen hinaus,  die sie in Bezug auf unseren Dienst und dessen Glaubwürdigkeit und Authentizität ausgelöst  haben. Der Weg der Kirche in Deutschland muss heute, liebe Mitbrüder, die Mitte finden  zwischen einer ängstlichen Absonderung von der Welt und einer sendungsvergessenen 

 Anpassung an die Welt. Je nach Standpunkt kritisieren die einen ein Aggiornamento, das  angeblich zu weit geht oder angeblich nicht weit genug geht. Wechselseitige Vorwürfe führen  oft zu Verhärtungen. Es kommt dann leicht zu Stillstand und Leerlauf. Angst ist auf jeden Fall  ein schlechter Ratgeber: sowohl die Angst derer, die an alten Zeiten festhalten und den  Wandel nicht ernstnehmen wollen, als auch die Angst derer, die das Bewährte wegtun und die  Spannung, in der der Glaube zu jeder Zeit stehen muss, auflösen wollen. Die einen meinen,  Gottes Geist wirke immer nur in den altbekannten Formen und Formeln. Als ob nicht die  ganze Geschichte des Christentums eine Geschichte voller Dynamik, eine Geschichte immer  wieder neuer Übersetzungsleistungen gewesen wäre: aus dem Judentum in die griechische  Welt, aus der Kultur des Mittelmeerraumes zu den Germanen, vom Mittelalter in Neuzeit und  Moderne. Die Tradition ist grundlegend ein Prozess, der nicht an einem bestimmten Punkt der  bisherigen Geschichte aufhört – weder beim Ersten noch beim Zweiten Vatikanischen Konzil.  Die anderen geraten in eine Art Torschlusspanik und werden ganz unruhig, wenn sich Gott  nicht an ihre Fahrpläne hält oder an das von ihnen vorgesehene Tempo. Um die Fahrt zu  beschleunigen, werfen sie für unnötig befundenen Ballast ab, statt die Reichtümer der  Tradition für die Zukunft fruchtbar zu machen. Könnte man Gottes Wirken prognostizieren,  wäre es unser Geist und nicht der Heilige Geist. Er wirkt, wo und wie er will. Er schickt die  Kirche immer neu auf den Weg.

Ich bin dankbar für die Klärungen, die das II. Vatikanische Konzil vollzogen hat. Sein Bild  von Kirche ist geprägt durch den Begriff der Communio: das ganze Volk Gottes bildet eine  Kirche in der ganzen Vielfalt der Charismen, Ämter und Dienste. „In fidei communione“, in  der Gemeinschaft des Glaubens, ist die Kirche stark. Dazu gehört auch das Zusammenwirken  der verschiedenen Vorlieben und Herzensanliegen, die es in der Kirche gibt. Nur so kann das  pilgernde Volk Gottes seinen Weg als Kirche auf authentische Weise gehen und zu den  Menschen von heute wirklich und unverkürzt finden, den Weg dessen Gott selbst sich  bedient, um zu den Menschen zu gelangen.

Ihr Urbild für diesen Weg hat die Kirche in Maria, der Mutter unseres Herrn. Die Schrift  schildert, dass sich die Jünger nach der Erhöhung des Herrn zum Vater um Maria sammeln, im Abendmahlssaal. Wo Maria ist, da entsteht Gemeinschaft, da wächst Kirche. Das hat eine  Verbindlichkeit für die Kirche: Sie muss selbst sein wie Maria. Eine marianische Kirche ist  eine Kirche, die birgt und Heimat gibt. Sie macht Mut, in die fremde Welt zu gehen und dort  Heimat zu finden. Eine Kirche nach dem Urbild Maria ist eine Kirche geschwisterlicher  Communio, getragen von Liebe und Solidarität. Sie ist eine pilgernde und hörende Kirche,  ausgerichtet auf Gottes Ruf und Wort; eine geisterfüllte Kirche, voller Energie und Dynamik,  eine Kirche, die Tag für Tag neu auf Gottes Geist hört, danach handelt und aufbricht.

Was bedeutet dies für uns in Deutschland? Wir Bischöfe stehen in der Verantwortung,  verstärkt auf eine Kirche hinzuwirken, die aus der Verheißung Jesu Christi und der Vision des Miteinanders lebt. Aus den vielen Gliedern wird ein Leib, wird eine Kirche, in die sich jeder  Glaubende aus Liebe und in Freiheit einfügt. Dieser neue Bund, die neue Gemeinschaft löst  sich vom bloß äußerlichen Nebeneinander, sie ringt um tiefe, innere Verbundenheit. Die  Kirche wird so vertieft eine Gemeinschaft und Aufgabe aller, ein Bündnis des Glaubens, der  Hoffnung und der Liebe. In ihm gilt der Andere nicht als Fremder, sondern als Geschenk, als  Ergänzung oder gar Bereicherung. Gott hat uns unsere Gaben und Fähigkeiten gegeben „zum  gemeinsamen Besten“ (1 Kor 12,7), „zum Aufbau des Leibes Christi“ (Eph 4,12).

Ohne Zweifel brauchen wir in unserer Kirche eine vertiefte Sensibilisierung und eine neue  Wertschätzung des Miteinanders. Könnte es nicht sein, dass in der Gabe des anderen, in der  Verschiedenheit und Vielfalt der Fähigkeiten und Talente etwas sichtbar und erfahrbar wird  von Gottes Güte, Unendlichkeit und Fülle? Wer dies begriffen hat, sieht in der Vielzahl der  Gaben nicht vorrangig eine mögliche Gefahr für die Einheit, nicht Anlass zu Neid und  Zwietracht, sondern die Chance für kirchliche Lebendigkeit. Die Fähigkeit des anderen reicht  möglicherweise über meine eigenen Grenzen hinaus und ist damit auch Begabung,  Bereicherung und Gabe für mich. Ausdrücklich hat Papst Benedikt XVI. dieses Thema in  seiner eigenen Diözese Rom angesprochen: „Zu viele Getaufte fühlen sich nicht der  kirchlichen Gemeinschaft zugehörig, leben am Rande von ihr und wenden sich nur bei  bestimmten Anlässen an die Pfarreien, um religiöse Dienste zu erhalten. Unter den  Einwohnern der einzelnen Pfarreien, auch unter denen, die sich zum katholischen Glauben  bekennen, gibt es immer noch verhältnismäßig wenige Laien, die sich bereitwillig zur Arbeit  in den verschiedenen apostolischen Bereichen zur Verfügung stellen. Gewiss gibt es viele  Schwierigkeiten kultureller und sozialer Natur, aber treu dem Gebot des Herrn können wir  uns nicht darauf beschränken, das Bestehende zu bewahren.[…] es bedarf einer Änderung  der Mentalität besonders in Bezug auf die Laien, die nicht mehr nur als »Mitarbeiter« des  Klerus betrachtet werden dürfen, sondern als wirklich »mitverantwortlich « für das Sein und  Handeln der Kirche erkannt werden müssen …“[12].

Das alles ist nicht bloß ein fernes Ziel, nicht bloß Appell. Es gibt in der Kirche viele gute und Mut machende Erfahrungen der Lebendigkeit und der Einheit in Vielfalt. Es macht Mut, dass Zehntausende Kinder und Jugendliche die Schulen in kirchlicher Trägerschaft besuchen. Sie haben das neue Schuljahr mit Schwung und oft auch mit Stolz auf ihre Schule begonnen. Ihre Eltern vertrauen uns ihre Söhne und Töchter gerne an. Tausende junger Leute haben ihre Ferien in Zeltlagern und Ferienfahrten der Kirche verbracht. Die großartige Wallfahrt der Ministranten nach Rom hat uns erleben lassen, wie junge Menschen mit Freude, Elan und großer Neugier den Glauben und das Zusammensein mit Gleichgesinnten leben und feiern. Dasselbe gilt für das geistliche und ökumenische Zentrum von Taizé, das ich kürzlich besucht habe. Dort gibt die Gemeinschaft der Brüder vielen jungen Menschen Orientierung und geistlichen Halt.

Ein Übriges konnte man beim Ökumenischen Kirchentag in München erleben. Er war wiederum eine Demonstration der vielen Dienste und der vielen Begabungen in den Kirchen. Die Kirchen haben den Beweis angetreten, dass sie verlässlich und kompetent an der Seite der  Menschen stehen. Sie helfen den Menschen, in Würde zu leben und auch in Würde zu sterben. In hunderten Einrichtungen der Caritas finden Menschen in Not die Erfahrung der Solidarität und menschlicher Nähe. Ich jedenfalls war aufs Neue beeindruckt von der Breite des kirchlichen Engagements, das in München zu erleben war. Besonders von den Ehrenamtlichen, die zehntausende Stunden zur Unterstützung unserer Gemeinden und Verbände aufbringen. Wir sind keineswegs Zeugen eines Zusammenbruchs des kirchlichen Lebens und Glaubens. Ich wundere mich sogar darüber, wie geflissentlich oft das viele Gute übersehen wird, das auch heute aus dem kirchlichen Raum erwächst.

„In fremder Welt zu Hause.“ In diesem Jahr ist unsere Herbstkonferenz in manchem anders  als sonst. Sie soll bekräftigen, dass wir uns der Wirklichkeit der Kirche stellen. Vor allem  stellen wir uns den Fragen und Sorgen der Menschen. Wir wollen unsere Mitmenschen hören  und wir wollen mit ihnen sprechen. Wir wollen eine Kirche der Pilgerschaft sein, der  anzumerken ist, dass sie in göttlichem Auftrag handelt. Wir wollen uns der Vielfalt der Gaben  und Begabungen bedienen und eine geistliche Gemeinschaft vertiefen. Nicht Angst und  Verzagtheit, nicht eine Flucht nach vorne und nicht der Traum von gestern sollen uns  bestimmen und beseelen, sondern das Heil der Welt: fremde Heimat, aber eben Heimat in der Gefährtenschaft dessen, der alle Tage bei uns bleibt, bis zum Ende der Welt. Der christliche  Glaube ist mitnichten ein Überbleibsel aus längst vergangener Zeit. Er ist eine prägende Kraft für die Gegenwart. Er wirkt für eine menschenfreundliche Gesellschaft – auch in Zukunft.


 

[1] Manfred Entrich, Joachim Wanke (Hrsg.), In fremder Welt zu Hause. Anstöße für eine neue Pastoral, Stuttgart 2001.
[2] Papst Paul VI., Apostolisches Schreiben „Evangelii nuntiandi“ über die Evangelisierung in der Welt von heute (EN), 8. Dezember 1975, 18.
[3] Vgl. 2 Kor 5,1; Phil 3,20; Hebr 11,40; Kol 3,1-4.
[4] Vgl. GS 1, 45; LG 8, 14.
[5] Joachim Kardinal Meisner, Meditation beim Internationalen Priestertreffen zum Abschluss des Priesterjahres in der Basilika St. Paul vor den Mauern in Rom, 9. Juni 2010.
[6] LG 1.
[7] Papst Paul VI., Antrittsenzyklika „Ecclesiam Suam“, 6. August 1964, 83.
[8] Bernhard Welte: Vom rechten Hören, in: Fragestellungen einer Akademie, Freiburg 1981.
[9] Joachim Wanke, Gott bezeugen und den Menschen dienen. Eine therapeutische Überlegung zur gegenwärtigen Lage der katholischen Kirche, in: Rheinischer Merkur Nr. 24, 17. Juni 2010.
[10] Vgl. Mt 5,16.
[11] LG 37
[12] Papst Benedikt XVI., Ansprache zur Eröffnung der Pastoraltagung der Diözese Rom zum  Thema „Kirchliche Zugehörigkeit und pastorale Mitverantwortung“ in der Basilika St. Johann im Lateran, 26. Mai 2009.

 

 

 

 

 
 

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