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Sonntag 24.11.2024, 20:41 Uhr
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4 Entwicklung einer hermeneutischen Methode

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Im folgenden Kapitel soll die hermeneutische Methode der Deutung von Zeitenstimmen von J. Kentenich dargestellt werden. Sie wird jedoch ergänzt und mit anderen Theorien bzw. Elementen von anderen Ansätzen, v.a. jenen von N. Luhmann, verbunden.  In Abgrenzung zur spezifischen Begriffsverwendung von Michael Zulehner wird in dieser Arbeit unter dem Begriff Kairologie allgemein das wissenschaftliche Deuten der Zeichen Gottes in der Zeit verstanden. Entsprechend der Definition von J. Ostheimer meint Kairologie dann eine „offenbarungstheologische Hermeneutik“, die sich als eine „Theologie des Anrufs Gottes durch Zeichen der Zeit“ versteht.[248]

In den Kapiteln 4.1 bis 4.4  erfolgen ausgehend von der Analyse des methodischen Dreischritts einige weitere erkenntnistheoretische Überlegungen. Diese sind aber eng gekoppelt an die eigentliche Methode von J. Kentenich, die dann ab 4.5. dargestellt wird. Ausgehend von der kentenichschen Variation des Dreischritts werden dann sukzessive verschiedene Methodenelemente  vorgestellt. Diese greifen ineinander, sind also jeweils implizit im Horizont des Deuters mitzuführen, auch wenn sie operativ und analytisch unterschieden werden. Am Ende bilden diese Elemente in organischer Weise die Gesamtmethode ab.

4.1 Analyse des methodischen  Dreischritts: Sehen – Urteilen – Handeln

4.1.1 Geschichte und Rezeption

Das Modell des Dreischritts von Sehen – Urteilen – Handeln, das in der Praktischen Theologie bis heute maßgeblich ist, geht zurück auf den belgischen Priester Josef Cardijn (1882-1967). Er hatte es als „apostolische Methodenlehre“ für die Christliche Arbeiterjugend (CAJ) entwickelt.[249] Vor allem über die Sozialenzyklika Mater et magistra von Johannes XXIII. vom 15.Mai 1961, sowie über die Pastoralkonstitution Gaudium et spes hat die Methode dann eine universalkirchliche Verbreitung gefunden. In der Pastoralkonstitution wird der Dreischritt bereits im Proömium eingeführt.[250] Laut H.-J. Sander fungiert er dann als Rahmenbeschreibung des Dokuments, „in der die Grammatik der Argumentation präsentiert wird“ und so „zum Strukturprinzip auch des ganzes Textes“ wurde. In besonderer Weise kommt der Dreischritt dann auch in den Nummern vor, in denen es konkret um die „Zeichen der Zeit“ geht: Der erste Schritt des „Sehens“ schlägt sich hierbei vor allem in dem Auftrag nieder, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen“ und die Welt „in ihrem oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen“ (GS 4). Diese dann „im Licht des Evangeliums zu deuten“, bzw. zu „unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind (GS 11), entspricht im Dreischritt dem „Urteilen“. Und das „Antwort geben“ (GS 4) liegt dann auf einer Ebene mit dem „Handeln“.

Reflektiert und weiterentwickelt wurde die Methode dann von verschiedenen Theologen. Zu nennen sind hier v.a. Paul M. Zulehner, Rolf Zerfass und die Befreiungstheologie. Die Ansätze dieser Theologen sollen nun stark verkürzt dargestellt werden.

Paul M. Zulehner hat aus dem Dreischritt für die Praktische Theologie das Konzept einer Handlungstheorie entwickelt.[251] An erster Stelle nennt er die Kriteriologie, in der die Praktische Theologie ihre vom Evangelium abzuleitenden Ziele klären muss. Aufgabe der Kairologie ist es hier, mittels einer Relecture von sozialwissenschaftlichen Analysen die Situation zu bestimmen, um schließlich ein Handlungskonzept zur entwerfen (Praxeologie).

Auch Rolf Zerfaß entwickelte mit seinem „Regelkreismodell“ den Dreischritt als Methode für die praktisch-theologische Wissenschaft, um eine konkrete Praxis zu reflektieren und Anhaltspunkte für ein verändertes Handeln zu bekommen.[252] Eine Situationsanalyse soll dabei zunächst Probleme klarer erfassen. Die der Praxis zugrunde liegende geltende Überlieferung solle dann kritisch reflektiert werden. Aus dem Spannungsfeld zwischen dem Überlieferungsanspruch und der Gegenwartsanalyse wird nach Konvergenzen gefragt, aus denen sich neue Handlungsimpulse theologisch und humanwissenschaftlich generieren lassen. Dies geschieht in der praktisch-theologischen Theoriebildung und soll für eine erneute Praxis genutzt werden.

Die verschiedenen Entwicklungen der Methode in Lateinamerika sind von Deutschland aus schwer zu überblicken. Zu unterscheiden sind dort verschiedene Reflexionsebenen. Auf der Ebene einer „Popularen Theologie der Befreiung“ vollzieht sich der Dreischritt eher intuitiv aus der Konfrontation des Evangeliums mit dem Leben, insbesondere dem Leben der Armen. Auf der Ebene einer „Professionelle Theologie der Befreiung“ finden dann eine sozialanalytische, eine hermeneutische und eine praktische Vermittlung statt. [253]

4.1.2 Reflexion und Kritik am Dreischritt

Trotz verschiedener Weiterentwicklungen und Reflexionen des Dreischritts, herrscht in der Praktischen Theologie weiterhin häufig Unzufriedenheit und wird das Methodenproblem häufig  als ungelöst betrachtet. Bei aller Wertschätzung des Dreischritts, zeigt sich doch immer wieder, dass er nicht genügend erkenntnistheoretisch reflektiert und zu wenig auf Kriterien und intersubjektive Nachvollziehbarkeit hin befragt wurde.[254] Auch Ch. Theobald weist auf dieses Problem hin, schreibt es jedoch vor allem dem Geisteszustand[255] der damaligen Zeit zu. Er betont, dass die Kriterien „erst in den klimatischen Veränderungen der Postmoderne“ sichtbar werden.[256]

Als ungelöst bezeichnet das Methodenproblem beispielsweise Stephan Knobloch und spricht in dem Zusammenhang vom „gordischen Knoten der Methodenfrage.“[257] Auch Stephanie Klein kommt zu diesem Urteil und nennt einige offene Fragen, wie z.B.: „Wie ist ein wissenschaftlicher Zugang zur Lebens- und Glaubenswelt von Menschen methodisch möglich? […] In welchem Verhältnis steht die erhoben Glaubenswelt der Menschen zu theologischen Theorien und lehramtlichen Aussagen?“ Außerdem beklagt S. Klein, dass auch das Verhältnis der Schritte untereinander zu wenig geklärt ist, vor allem das Verhältnis zwischen Situationsanalyse und der theologischen Reflexion.[258] Im Folgenden sollen v.a. mit Hilfe der Arbeit von J. Ostheimer manche erkenntnistheoretische Fragen erörtert werden.

a) Durchdringung von Sehen und Urteilen

Der Begriff „Dreischritt“ suggeriert, dass die drei Schritte sukzessive ablaufen. Dies zeigt sich aber in einer epistemologische Betrachtung als nicht zutreffend. Der Ausdruck „mit den Augen der Glaubens sehen“ macht bereits, deutlich, dass der Dreischritt nicht als eine lineare Abfolge, sondern als ein zirkuläres Modell zu denken ist.[259] Sehen, Urteilen und Handeln stehen dabei in einem komplexen Wechselverhältnis.  „Der Glaube kommt nicht erst sekundär als ein normatives Deutungsinstrument der erhobenen Situation ins Spiel, sondern liegt als normative Prämisse der gesamten Methode zugrunde. Die aufmerksame Zuwendung zur Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen und zu ihren einfachsten Alltagserfahrungen ist bereits ein Glaubensakt“, so S. Klein.[260] 

Der Hauptkritikpunkt am Dreischritt zielt darauf ab, dass beim Vorgang des Sehens und Verstehens nicht dessen Bedingungen und Vorentscheidungen reflektiert werden.  In der Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung geht es genau darum, zu beobachten, wie beobachtet wird und so seine Fakten konstruiert werden.[261] J. Ostheimer stellt in seiner Abhandlung dabei vor allem die referenzwissenschaftlichen Grundlagen in den Mittelpunkt seiner Analyse.[262] Diese werden in dieser Arbeit eher wenig in den Blick genommen.    

Mit der Systemtheorie N. Luhmanns lässt sich zeigen, dass jede Beobachtung und damit auch das kairologische Sehen, auf einer mehr oder weniger bewussten, kontingenten Unterscheidung beruht, die das Beobachtete gleichsam konstruiert. Jede Unterscheidung produziert nun zwangsläufig blinde Flecken. Die beobachtungsleitenden Unterscheidungen sind zumeist vorreflexiv und zu unterscheiden von expliziten Kriterien der Kriteriologie. Sich diesen Vorgang des Wahrnehmens und Verstehens bewusst zu machen, ist ein erster wichtiger Schritt für jeden Theologen, Gläubigen und auch für Nichtgläubige. Wahrnehmen ist von individuellen und soziokulturellen[263] Wahrnehmungs- und Deutungsmustern bestimmt. Dabei ermöglichen die Urteile und Raster, die dem Sehen zugrunde liegen, das Sehen überhaupt erst.

In dieser Arbeit soll es vor allem darum gehen, solche Unterscheidungen im alltäglichen Gebrauch ins Bewusstsein zu heben und sie dann auf ihre Leistungsfähigkeit im Blick auf das Erkennen der Stimmen Gottes in den Zeichen der Zeit zu prüfen.

b) Zum Verhältnis von Sehen und Handeln

Auch das Verhältnis zwischen Sehen und Handeln ist mehrdimensional. Im Folgenden sollen einige Aspekte aufgezählt werden.[264] Sehen und Erkennen prägen die Handlungen der Menschen, wobei nicht jedes Sehen gleich zu einer Handlung führt. Da mag die Stärke des Impulses, auch der Emotionen wie Mitleid oder Empörung, eine Rolle spielen. Es ist nun wichtig, auch den Einfluss von gesellschaftlichen Strukturen zu beachten, die ein spontanes, individuelles Handeln einschränken. So ist das Handeln in der organisationsförmigen Diakonie beispielsweise auch  von sozial hergestellten Programmen geleitet. Indem Subjekte und Systeme gleichermaßen als Handelnde betrachtet werden, wird man der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie auch der Verantwortung des Einzelnen vermutlich mehr gerecht, als wenn man ausschließlich auf das einzelne Subjekt schaut.[265]

Ferner gibt es auch eine Rückwirkung der Praxis auf das Sehen. Beim Handeln nimmt man ebenfalls Wirklichkeit wahr und schafft diese auch. Dabei kann es auch vorkommen, dass man die Wirklichkeit erzeugt, die man erzielen wollte, was Kommunikationspsychologen auch „sich selbst erfüllende Prophezeiung“ nennen.

Das Handeln kann im Verhältnis zum Sehen unterschiedlich gewichtet werden. M.  Zulehner hat die Praxeologie stark betont und Kirche und Welt vom Auftrag Jesu her als dauernd zu verändernd und zu reformierend herausgestellt. Auch die Befreiungstheologie hat eine „universale praxeologische Zielsetzung“ im Sinn: „Alles muß auf die Praxis (Liebe) hin konvergieren.“[266] Dies liegt auch auf einer Line mit Josef Kentenich. Im praktischen Vorsehungsglauben gibt es eine unlösliche Interrelation von Erkennen und Handeln, die sich vor allem im „Gesetzt der geöffneten Tür“ in Verbindung mit der „schöpferischen Resultante“ zeigt.[267]

c) Präferenz für den induktiven Weg

Vor diesem Hintergrund relativiert sich auch die Frage, ob „Zeichen der Zeit“ eher auf induktivem oder auf deduktivem Weg gedeutet werden können. Ob also der erste Blick ins Buch der Offenbarung oder in das Buch des Lebens geht ist hier nicht entscheidend, weil das Sehen und Verstehen im Glauben nur in der Zweiheit dieser Perspektiven funktionieren kann.[268]

Es ist also beispielsweise nicht der einzige Weg, auf deduktivem Weg in die Heilige Schrift zu schauen, um dort Gottes Wille für das konkrete Leben zu erkennen.[269] Denn insofern die Zeit als locus theologicus verstanden wird,  kann der im Glaubensgeist gewachsene Christ ebenso durch die induktive Methode auf sein Leben schauen und dort Gottes Anruf wahrnehmen. Dabei wird er nämlich implizit von seinen im Glauben getroffenen beobachtungsleitenden Leitunterscheidungen und Deutungsmustern gelenkt und kann so das Leben vom Evangelium her deuten. Johann Hafner stellt hierbei fest: „So mischen sich Induktion von Konkretem und Deduktion von Formen, aber das Deduzierte setzt das Induzierte voraus und nicht umgekehrt.“[270] Systemtheoretisch betrachtet, wird Komplexität durch Induktion zunächst reduziert, um sie dann innerhalb des eigenen Deutungssystems, also hier der Theologie, wieder aufzubauen. Jedoch immer noch mit dem Ziel, die Komplexität der Wirklichkeit in den Griff zu bekommen bzw. zu reduzieren. In diesen Prozessen ist dann auch das Deuten der Zeichen der Zeit zu verorten. Der religiöse Mensch betrachtet die Wirklichkeit und auch das Leid vor dem Hintergrund der ewigen Welt. Diese „Realitätsverdoppelung“ hilft am Ende, Kontingenz zu bewältigen und zunächst Unverständliches in Sinnhaftigkeit zu überführen.

Der hermeneutische Vorgang umgreift also das komplexe Wechselverhältnis von Sehen, Urteilen und Handeln, die nicht als zeitlich nacheinander folgende Phasen zu verstehen sind, sondern eher als Momente und Dimensionen eines Gesamtvorgangs, der aber in seinen Aspekten analytisch aufgeteilt werden kann. 

4.2 Ereignis, Bewusstwerdung und Identität

Im Folgenden sollen einige Überlegungen folgen zum Charakter des Ereignisses und zum Zwischenraum von widerfahrenem Ereignis und gedeutetem Ereignis. Verschiedene Philosophen haben das Ereignis in seiner Unverfügbarkeit bzw. Kontingenz und mit seiner schöpferischen Kraft in den Mittelpunkt ihres Denkens gestellt, etwa Heri Berson, Friedrich Nitzsche oder Martin Heidegger. Grundgedanke dieser Philosophen ist, dass dem Menschen ein Ereignis widerfährt. Es kommt also etwas von außen über ihn, ohne das er es selbst geplant oder gewollt hätte. H. Bergsons These ist dabei, dass durch ein Ereignis Neues entsteht, durch den Vorgang der Aktualisierung von Möglichem in Wirklichkeit.[271]

In diese Gedankengänge lässt sich auch das schöpferische Gnadenwirken Gottes mitdenken. Und zwar in den Ereignissen selbst, wie auch in den Prozessen des Deutens. Die Wahrnehmung ist dabei „das Bindeglied zwischen der souveränen Lebendigkeit Gottes und den Menschen, die diese Lebendigkeit Gottes zu ‚lesen‘ versuchen“, so Albrecht Grözinger.[272] Auch Leonardo Boff schreibt, dass das, was Gott von uns will, nicht mit einem simplen Rückgriff auf die Schrift geklärt werden kann. Es gelte bei der Zeichendeutung auch das „Unvorhersehbare der Lage“ mit zu berücksichtigen. „Das ist eindeutig ein Apell an Spontaneität, Freiheit und schöpferische Phantasie. Gehorsam heißt: offene Augen für die Situation haben, sich entscheiden und sich auf das riskante Abenteuer einlassen, Gott, der heute und jetzt spricht, zu antworten.“[273] Auch Kentenich sieht das Deuten der Zeichen der Zeit als schöpferische Tätigkeit, die im Heiligen Geist geschieht. Er fordert auf, „zu den modernen Lebenskrisen wagemutig und schöpferisch Stellung zu nehmen.“[274]

Dabei wird auch der Zusammenhang von Zeitenstimmen und Seelenstimmen deutlich: Es ist also nicht das isolierte Ereignis, in dem Gott spricht, sondern immer in Verbindung mit den dadurch ausgelösten Regungen, Deutungen und Bewertungen der Seele. Diese Unterscheidung ist in der Methode von Kentenich von großer Bedeutung. Er spricht dabei auch immer wieder von „seelischen Vorgängen“ und der Prozesshaftigkeit des Lebens. Durch die Methode der „Einfühlung“ in die Reaktionen der Menschen können so Strömungen ausfindig gemacht werden.[275]  

Wie unter der Begriffsbestimmung angedeutet, geht es bei den „Zeichen der Zeit“ auch immer um Bewusstwerdung im Blick auf eine heilvollere Zukunft. M.-D. Chenu betont: „Bewusstwerdung: das ist es wodurch ein Faktum Zeichen wird. Ein psychischer Akt, der nicht in einer theoretischen Deduktion entsteht, sondern aus einer Wahrnehmung erwächst, die von einem Engagement oder in der Praxis provoziert wird.“[276] Wichtig ist dabei eben auch der Begriff der Strömung, wie er oben eingeführt wurde. Ereignisse, Strömungen und Bewusstwerdung stehen in einem engen wechselseitigen Verhältnis. Eine Schwalbe macht zwar noch keinen Sommer, aber mehrere oder besonders einschneidende Ereignisse können eine Strömung auslösen, die dann wiederum eine Eigendynamik gewinnen kann.

Ganz verschiedene Ereignisse und Kollektive ließen z.B. in den 1970er Jahren die Ökologische Bewegung entstehen.[277] Dies waren vor allem Ereignisse, die deutlich machten, dass der Kapitalismus nicht grenzenlos und ungebremst agieren kann. Atomkatastrophen wie Tschernobyl  1985 und Fokushima 2011 hatten hier eine besonders große (katalysatorartige) Wirkung. Insgesamt entstand ein Bewusstwerdungsprozess, achtsamer mit der Umwelt umzugehen, das Verhältnis zwischen Mensch und Natur (aus christlicher Sicht: Schöpfung) bewusster zu gestalten. 

Etwas anderes ist es bei der Frauenbewegung. Hier haben weniger größere Ereignisse eine Rolle gespielt, sondern eher Frauenpersönlichkeiten, die durch Worte oder einfach durch ihr Leben eine Botschaft aussenden. Wirkungsvoll zeigen sich auch immer wieder Aktionen, bei denen sich mehrere Frauen zusammen tun. Eine größere Rolle spielen auch human- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, die auch als Ereignisse qualifizierbar sind. Ob sich die Strömung, die zur Zeit wieder intensiver nach den Möglichkeiten der Frau in der Kirche fragt zu einem breiten Strom entwickelt oder wieder zum Rinnsal verkümmert, wird die Zeit zeigen.[278] Insgesamt spielen die Medien aber auch die Wissenschaften in der modernen Gesellschaft eine besondere Rolle. Sie können Strömungen forcieren oder bremsen. Manche Strömungen haben auch eine längere Inkubationszeit. Man kann versuchen, sie zu unterdrücken. Aber sie sind dann doch nicht „totzukriegen“.

Ob Menschen oder Kollektive Ereignissen und Strömungen eine größere Bedeutung beimessen und sich von ihnen in Frage stellen lassen, hängt von der Frage des Umgangs mit der eigenen Identität ab.[279] Die Vorgänge der Bewusstwerdung dienen letztlich der eigenen Subjektwerdung, der Identitätsentwicklung, der klareren Sicht des eigenen Selbst auch im Verhältnis zu Gott, der Liebe ist (1 Joh 4,16). Aber es geht nicht nur um diese allgemeine Aussage, sondern um ihre Konkretisierungen und Verwirklichungen im Leben, in der Zeit. Zu Bewusstwerdungsvorgängen, die das Leben heilvoll verändern, wollen Zeiten-stimmen hinführen.

H. King beschreibt das Paradigma der Identitätsbildung des „Neuen Menschen“ bei J. Kentenich in Form eines Dreiecks.[280] Die eine Seite des Dreiecks ist das Selbstsein einer Identität, eine gewisse Geschlossenheit. „Der Mensch ist ein aus der eigenen Mitte heraus ganzheitlich sich entfaltender, origineller Mensch.“[281] Die zweite Seite des Dreiecks nennt H. King aktive und passive Offenheit. Dies bedeutet Dialog, Kommunikation. Hier geht es u.a. darum, Zeitenstimmen in sich aufzunehmen. Dabei geschieht auch Bewusstwerdung der eigenen Identität. „Organisch assimiliert er Neues und entfaltet damit seine Persönlichkeit“, so H. King.[282] Die dritte Seite des Dreiecks ist Wille und Lust zum Einfluss. Der Neue Mensch ist also ergriffen und überzeugt von einer Sendung Gottes und versucht daher, seiner Umwelt und den Mitmenschen etwas von seinem persönlichen Reichtum und seinen Überzeugungen zu geben. Er übernimmt Verantwortung und erfährt sich darin als frei.[283]

4.3 Mit den  Augen des Glaubens

Dass unser Sehen immer schon von Anschauungen, Ideen, und Theorien geprägt ist, wurde bereits ausgeführt. Dabei war bereits von den „Augen des Glaubens“ die Rede, die für das erkennen der „Zeichen der Zeit“ unabdingbar sind. Wie diese Sicht näherhin beschaffen ist, soll nun erörtert werden.[284]

In der Heiligen Schrift gibt es für den Vorgang der Sehens mit den Augen des Glauben das Bild des „hörenden Herzens“ (1 Kön 3,9). Das Herz ist im Alten Testament häufig Symbol für den ganzen Menschen. „Es gilt darum nicht nur als Sitz des Gemütslebens u. der Leiden-schaften, es ist auch der Sitz des Erkennens u. Denkens (1 Kg 3,11f; Os 4,11).“[285] Daran zeigt sich, dass der ganze Mensch für den Erkenntnisprozess gefordert ist. Mir Hör- und Sehsinn, sowie den Seelenkräften: Herz, Wille und Verstand. „Wer Ohren hat, der höre“ ermahnt Jesus immer wieder seine Zuhörer.[286] D.h. die Sinnesorgane müssen irgendwie sensibilisiert werden für den Blick auf das Übernatürliche; und der Verstand angereichert mit Wissen über Gott und das Evangelium, und die „übernatürliche Seinsordnung.“[287] J. Kentenich spricht in diesem Zusammenhang häufig vom „Glaubensgeist“[288], von einer übernatürlichen „Instinktsicherheit“.[289]

Im „praktischen Vorsehungsglauben“ kann der Gläubige nun aus den Ereignissen der Zeit persönliche Botschaften für sich deuten. Der Schönstattpater Paul Vautier bemerkt dazu: „Es ist keine Hermeneutik der Vernunft, sondern des Glaubens, der Liebe, letztlich eine Hermeneutik des Wagnisses.“[290] Aus dieser Anschauung heraus können die Ereignisse der Zeit in einem anderen Licht erscheinen, sozusagen vom Glaubenslicht erhellt werden, mit anderen, weiteren Referenzkreisen versehen werden. Bei Luhmann war hier die Rede von „Realitätsverdoppelung.“[291] Doch muss hierbei mitbedacht werden, dass auch der erste noch unreflektierte Blick beim Gläubigen schon (mehr oder weniger stark) von der Glaubenssicht geprägt ist.

Jürgen Werbick unterscheidet zwischen einer Außen- und einer Innenseite der Wirklichkeit. Der Blick auf die Außenseite der Wirklichkeit ist die Perspektive der Beobachter. „Sie nehmen in den Blick und analysieren, was sich in den unendlichen Zeit-Räumen abgespielt haben mag, noch abspielen könnte. Die Naturwissenschaften weisen uns ein in dieser Beobachterperspektive, in der wir uns nur wie ein Fast-Nichts vorkommen werden.“[292] Doch Jesus ruft die Menschen in eine andere Perspektive: „Es gibt eine Innenseite der Wirklich-keit, unsere Innen-Welt, die Innen-Welt Gottes, seines unendlichen Wohlwollens.“[293] Diese Innensicht liegt auf einer Ebene mit der des praktischen Vorsehungsglaubens. Hier geschieht eine persönliche Begegnung zwischen Schöpfer und Geschöpf, eine gegenseitige Hinwendung, Vertrauen, Wertschätzung, Liebe. Um den Christlichen Glauben zu leben und  in den Geist des Gebets hineinzuwachsen, sieht J. Werbick die Notwendigkeit von der Beobachter- in die Teilnehmer- und Teilhabeperspektive zu wechseln.[294]

Für das Erkennen der „Zeichen der Zeit“ gilt es jedoch, beide Perspektiven anzuwenden und miteinander zu verbinden. Man könnte diese Perspektive dann eine teilnehmende Beobachtung nennen. Die beiden Perspektiven gehen dann teilweise ineinander über. Wobei die Vorgänge des analytischen Beobachtens und des gläubigen Reflektierens und „Nachkostens“[295] sich tendenziell eher phasenweise abwechseln und so ergänzen.

Aus der Sicht N. Luhmanns kann nun kritisch angefragt werden, ob solch eine religiöse Deutung der Welt nicht ein völlig subjektiver und immanenter Vorgang ist, bei dem Gott gar nicht erreicht werden kann. Dieser Schluss legt sich nahe, wenn man wie N. Luhmann bei der (durchaus wichtigen) Erkenntnis verharrt, dass die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz ja immer auf der Seite der Immanenz geschieht. Gott wäre demnach der Unbeobachtbare und Unerreichbare. G. Thomas macht dabei aber die wichtige systemtheoretische Ergänzung: Gott selbst, als die Einheit der Unterscheidung Transzendenz/ Immanenz, vollzieht in der Form einer Selbstexplikation diese Unterscheidung. Entscheidend ist dabei, dass er dies auf der (ihm gegenüberliegenden) Seite tut, nämlich auf der Seite der Immanenz. Diese Selbstexplikation ist streng zu unterscheiden von einer Selbstbeobachtung, die er nämlich auf der (seiner) Seite der Transzendenz vollziehen würde. Seine Selbstexplikation spitzt sich vor allem im Inkarnationsgeschehen zu. Der Gottmensch Jesus Christus zeigt dabei, dass und wie auf der Seite der Immanenz Gott erreicht werden kann. Im Heiligen Geist erkennt er den Willen des Vaters. Und durch das Wirken des Heiligen Geistes kann auch der Mensch Teilhabe erlangen am Beobachterstatus Gottes und so zumindest partiell auch Gottes Wille und Pläne einsehen.[296] Mit dieser Denkfigur können somit Dualitätsvorstellungen von Gott und Welt überwunden werden. Gottes Sein und Wirken in der Welt wird so als eine Immanenz-Transzendenz beschreibbar und beobachtbar. Dies entspricht auch der Überzeugung Kentenichs vom Wirken Gottes in den Zweitursachen. Auch außergewöhnliche Erkenntnisquellen sind dann für das Erkennen des Willens Gottes nicht nötig.[297] J. Kentenich betont, dass es mit den Augen des Glaubens im natürlichen Sein, in der Zeit und den Seelen eine „Durchsichtigmachung des Göttlichen“ zu vollziehen gilt.[298] So ist es für den Christen möglich, im praktischen Vorsehungsglauben Gottes Zukunftspläne zumindest teilsweise zu erhellen. Es drängt sich nun freilich die Frage nach der intersub-jektiven Nachvollziehbarkeit und nach Kriterien der Deutung von Zeitzeichen auf.[299]

Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang auch, dass man für intersubjektive Nachvollziehbarkeit und die Praxis sozialer Rechtfertigung genügend gemeinsame Plausibilitätsstrukturen braucht.[300] Dies ist sicher nicht immer automatisch gegeben, sondern muss in kommunikativen Prozessen immer wieder neu hergestellt werden.  Alles was gesagt wird steht in Relation zu (s)einem sprachlichen bzw. interpretatorischen Horizont.  V.a. bei unterschiedlichen Weltanschauungen zeigen sich dabei Grenzen der Vermittelbarkeit. Aber auch innerhalb der Glaubensgemeinschaft ist mit einer Pluralität von Glaubenswelten und Gottesbildern zu rechnen, die eine Herausforderung darstellen kann. Die Grundentscheidung des Glaubens an Jesus Christus und die Offenbarung des Wortes Gottes in der Heiligen Schrift mag die gleiche sein. Doch die Programme der Aktualisierung dieser Grundent-scheidung können sich stark voneinander unterscheiden. Um in der systemtheoretischen Beschreibung zu bleiben: Sie sind zunächst als funktional äquivalent zu betrachten. Wobei sich manche Formen von Theologie und Spiritualität (oft auch abhängig von der Zeit) stärker durchsetzen als andere. Pluralität und Normativität müssen dabei nicht zwangsläufig ausein-andertreten. Entscheidend ist, dass man sich immer wieder auf grundsätzliche Übereinstim-mungen in den Glaubensinhalten einigen kann, die als gemeinsamer Bezugshorizont fungieren.

Aber es kommt neben den Glaubensinhalten (fides quae) auch auf den Glaubensakt (fides qua) an, wie es mit bei der Beschreibung des „hörenden Herzens“ bereits angeklungen ist. Das eigene Glaubenslicht kann also unterschiedlich hell leuchten. Dies wird vor allem dort sichtbar, wo sich die Welt oder Situation um Menschen besonders verdunkelt. Hier kann es dann auch Entwicklungen geben, dass Ereignisse im Laufe der Zeit in einem anderen Licht erscheinen können, dass sich also ein Bewusstwerdungsprozess vollzieht, wie er im vorigen Abschnitt erläutert wurde. Ein beredtes, vielleicht auch provokantes Beispiel davon, wie sich innerhalb des Glaubens die Weltanschauung mit einer Zunahme des Glaubenslichtes weiter entwickelt findet sich in dem Roman von Georges Bernanos: „Tagebuch eines Landpfarrers.“[301] Am Ende eines schrecklichen Tages und eines von Leid durchzogenen Lebens versteht der alkoholisierte Priester endlich, dass sein ganzes Leben eine ihm angebotene Gnade darstellte: „Und wenn jedes Stolzsein in uns gestorben wäre, die Gnade aller Gnade wäre die demütige Liebe unserer selbst, wie jedes leidenden Gliedes Jesu Christi.“ Damit wird gesagt, dass Wirklichkeit nicht an sich Zeichen der Zeit ist, aber das jedes Ereignis potentiell zu solchen werden kann. „Alles ist Gnade“, sind dann die letzten Worte des Curé.[302]

4.4 Bezugshorizont: Welt und Kirche am neuen Zeitenufer

Der Glaube als fides qua und fides quae gibt also den Referenzrahmen für das Deuten der „Zeichen der Zeit“. Hinsichtlich der fides qua, also den beobachtungsleitenden Bildern und Inhalten, spielt für das Erkennen der „Zeichen der Zeit“ bei J. Kentenich die Vorstellung vom Reich Gottes sowie daran geknüpft das Bild bzw. das Konzept über Kirche und Welt der Zukunft eine bedeutende Rolle.

Norbert Mette stellt anhand der Analyse verschiedener Handbücher der Praktischen Theologie fest, dass sich Betrachtung und Beurteilung der Kirche und der Welt innerhalb zwei verschiedener Paradigmen vollziehen können: das Säkularisierungs- und das Evangeli-sierungsparadigma. Ersteres fokussiert v.a. das Verhältnis zwischen Kirche und (modernen) Welt. Bezugsproblem ist hier die entchristlichte und entkirchlichte Welt bzw. der schwinden-de Einfluss der Kirche gegenüber der Gesellschaft.[303]  

Das Evangelisierungsparadigma lässt sich nach Mette primär von der Frage und Sorge leiten, „welche Folgen dieser Prozeß für die Gestaltung einer humanen Praxis überhaupt zeitigt.“[304] Die Diagnose der Säkularisierung ist demnach zwar nicht falsch, aber eben nicht entscheidend. In dieser Perspektive  wird die Kirche selbst zum  Objekt einer zu verändernden Größe. Nicht nur die  entchristlichte und entkirchlichte Welt ist zu evangelisieren, sondern die Kirche muss sich auch selbst evangelisieren (lassen) und mit ihr die einzelnen Gläubigen, bzw. ihre Herzen.  Das Verhältnis der Kirche zur Welt ist hierbei sekundär. Der Bezugshorizont dieses Paradigmas ist nicht die Kirche, sondern das Reich Gottes.  Dieses ist wiederum nicht als rein jenseitige Größe zu verstehen, sondern ragt in die irdische Welt hinein und strebt nach seiner sozialen Konkretisierung in der jeweiligen Zeit.

J. Kentenich bezeichnet diese Konkretisierung als Welt und Kirche am „neuen Ufer“ der Zeit.[305] Schon Anfang der 40er Jahre sieht er einen von Gott gewollten epochalen „Gestaltwandel“ von Welt und Kirche heraufziehen.[306] Auch Soziologen stellen gewaltige gesellschaftliche Veränderungen fest und suchen ebenfalls nach Begriffen und Beschreibungen von dem, was Kentenich schnörkellos die „neueste Zeit“ nannte. Soziologen bezeichnen die sich verändernde Moderne seit Anfang der 1980er Jahre beispielsweise mit den Begriffen „Zweite Moderne“, „Postmoderne“ oder „Reflexive Moderne“ und beschreiben die sich immer klarer abzeichnenden fundamentalen strukturellen Veränderungen im Denken, Fühlen und (sozialen) Handeln der Menschen. Kentenich führt aus:

"Wegen der Gleichheit der Ideale verbindet eine geheime Sympathie Schönstatt mit der Zeit, erklärt seine Aktualität und Stoßkraft und bürgt für seine künftige Fruchtbarkeit. Wir haben die Zeit immer nicht nur als Zusammenbruch aufgefasst, sondern auch als Aufbruch, nicht nur als Katastrophe und Ende, sondern auch als Übergang zu einer neuen Welt mit geheimen Wachstumsgesetzen, als Aufgang zu einem hellen neuen Morgenrot, zu einer neuen Zeit, zu neuen Siegen der Braut Christi, seiner Kirche. Alles Gären und Brodeln deuteten wir als Gestaltwandel des Gottesreiches hier auf Erden."[307]

Und in einem Brief aus dem Gefängnis in Koblenz im Dezember 1941 schreibt er: "Am Horizont zeigen sich - langsam deutlich erkennbar - die großen Strukturlinien einer neuen Weltordnung, eine alte Welt ist am Verbrennen.“[308] Bei aller Traditionsverbundenheit hatte sich Kentenich auch stark mit den fortschrittlichen Kräften seiner Zeit verbunden. Er betrachtet die aktuelle Zeit als Übergangszeit. Die Kirche sieht er wie auf einem Schiff auf hoher See vom „alten Ufer“ weg hin zum „neuen Ufer“ fahren. Wertvolles aus der Tradition gilt es dabei zu bewahren, jedoch manches an Abfall und „überaus sinnvollem Zerfall“[309] ist auch zu begrüßen.

Doch die Ansätze des Neuen, die oft aus Zerfallsprozessen herauswachsen und resultieren, sind noch immer häufig schwer zu erkennen. H. King sagt hierzu: 

„Das Alte ist noch da, aber an manchen Stellen schon, und wachsend mehr, in Frage gestellt, angekratzt, geschwächt, zum Teil am Verfallen, sehr langsam vielfach. Das Neue ist auch schon da, aber noch nicht klar genug. Es setzt sich noch nicht durch, ist meistens mehr als Kritik am Bestehenden und als Emanzipation von demselben sichtbar. Besonders in den geschlossenen katholischen Territorien wird es noch dauern, bis der sich vollziehende Prozeß so spürbar wird, daß klar ist, daß es nicht einfach mehr zurückgeht.“[310]

Es würde im Rahmen dieser Arbeit zu weit führen, die Merkmale des Gestaltwandels ausführlich zu umschreiben. Deshalb im Folgenden nur ein paar Andeutungen dazu. Kentenich hatte am neuen Ufer sehr stark einen neuen Menschen[311], eine neue Gemeinschaft[312], eine neue Kirche[313] und eine neue Gesellschaftsordnung[314] im Blick. Damit einher gehen dann ein gewandeltes Bewusstsein, ein neues organisches Denken[315] und ein neues Lebensgefühl. Vorgänge dieses fließenden Übergangs sind auf der gesellschaftlich-strukturellen Ebene beispielsweise die der Individualisierung der Lebensstile, die Pluralisierung der Lebenswelten und Weltanschauungen sowie die Globalisierung. Sie sind verbunden mit einer tiefer greifenden „Lebenskrise“, bei der Themenkomplexe wie beispielsweise Bindung und Freiheit eine größere Rolle spielen. L. Penners bemerkt dazu:  „Die ‚Zeichen der Zeit’ im Verständnis von J. Kentenich sind deswegen zu charakterisieren als Manifestationen sich ankündigender Profilierung einer epochenbedingten Mentalitätsbildung im Rahmen des objektiven Geistes.“[316] Ereignisse sind somit möglichst stark von diesem neuen Zeitenufer zu deuten, um ihm dadurch auch stärker zum Durchbruch zu verhelfen.

Das „neue Zeitenufer“ zu erreichen heißt bei Kentenich auch, in der Nachfolge Christi „der göttlichen Idee vom Menschen“[317] zu dienen. Er formuliert dieses Ziel dann auch als „marianische Christusgestaltung der kommenden Welt zur Verherrlichung des Vaters.“[318] Dies liegt auch ganz auf der Linie des  Zweiten Vatikanischen Konzils, das davon ausgeht, dass der Kirche „in ihrem Herrn und Meister der Schlüssel, der Mittelpunkt und das Ziel der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben ist“ (GS 10). Während die Kirche eine letzte Vollendung in Jesus Christus im ewigen Leben erwartet, geht sie gleichzeitig davon aus, dass dieses Ziel schon im Diesseits zu erstreben sei. So sagt das Konzil weiter: „Die Welt […] [ist] dazu bestimmt, umgestaltet zu werden nach Gottes Heilratschluss und zur Vollendung zu kommen“ (GS 2). Konkret geht es vor allem um die „Rettung der menschlichen Person“ und den „rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft“ (GS 3).

Das Paradigma der Evangelisierung wird in diesem Kontext auch der Tatsache gerecht, dass Kirche und Gesellschaft sich nicht einfach als zwei Größen gegenüberstehen, sondern sich durchdringen und jeweils voneinander profitieren und lernen.[319] Kirche ist immer auch Teil der Gesellschaft und Kind ihrer Zeit. Ihr Grundverhältnis zur Welt ist entsprechend Gaudium et spes das des Dialogs und der Solidarität.[320] Aufgabe der Kirche von morgen ist es nach Kentenich „Seele der heutigen gesamten Weltkultur“[321] zu sein. Insofern verwirklicht die Kirche dann ihren Auftrag, Zeichen und Werkzeug des Heils zu sein.

4.5 Beobachten – Vergleichen – Straffen – Anwenden

Die konkrete Methode, Gottes Stimmen in der Zeit wahrzunehmen, differenziert Kentenich in vier Momente:  Beobachten – Vergleichen – Straffen – Anwenden. „Anwenden“ entspricht weitgehend dem „Handeln“ beim Dreischritt von J. Cardijn. Das „Beobachten“ bezeichnet ungefähr das „Sehen“. Wobei „Beobachten“ schon mehr die beschriebenen Wechselwirkungen von Sehen und Urteilen mit formuliert. Der Unterschied zur J. Cardijns Methode liegt im Vergleichen und v.a. im Straffen. Denn damit werden weitere Unterscheidungen beim Beobachten reflektiert und angewandt.[322]

(1) Am Beginn der Methode steht ein möglichst werturteilsfreies, nüchternes Beobachten der Welt bzw. des Lebens. Freilich gehen in das Beobachten immer auch Perspektiven und Unterscheidungen mit ein. Wichtig ist jedoch, zunächst hinsichtlich moralischer Wertungen zurückhaltend zu sein.[323] Jedes Ereignis und jede Lebensäußerung in der Zeit sind dabei potentiell von Interesse. Der Blick soll sich dabei insbesondere auf die seelischen Regungen der Menschen richten sowie auf Stimmungen und Strömungen. Es geht darum, wahrzu-nehmen oder wie Kentenich sagt „Fühlung“ zur Zeit bzw. „Einfühlung“ zu den Menschen herzustellen.[324]

(2)
Identität zeigt sich dabei immer aus der Differenz, aus Abgrenzung mit anderem. Deshalb gilt es zu vergleichen mit anderen Zeiten, Kulturen, Generationen. So wird sichtbar, was in einem Phänomen der zeitliche Anteil ist, was der persönlichkeitsabhängige, geschlechter-spezifische, gruppenspezifische, kulturelle. Wo gibt es allgemeine Gesetzlichkeiten über den Menschen und das Soziale? Auch die quantitative Häufigkeit von Strömungen sowie der Radius ihres Vorkommens sollen beachtet werden. Was ist typisch? Wo gibt es Akzentsetzungen? Welche Lebenswerte werden betont? Welche nicht? Welche Entwick-lungslinien zeichnen sich ab?[325]

(3) Dies führt unmittelbar in den Vorgang des Straffens, worin hauptsächlich das Originelle in der Methode Kentenichs liegt. Nach Kentenich ist dies der wichtigste und gleichzeitig der schwierigste Schritt.
Dabei geht es auch um einen Abgleich mit der natürlichen und übernatürlichen „Seinsordnung“, wofür die Philosophie, die Humanwissenschaften sowie Theologie, die Heiligen Schrift, Lehramt und Tradition der Kirche Aspekte liefern. Somit verbinden sich hier induktive und deduktive Perspektive, empirische und metaphysische und bilden ein organisches Miteinander.[326]

Es geht um ein Rückführen auf allgemeine Prinzipien, „auf einen letzten Nenner“[327], um ein Prüfen, ob es etwas Allgemeines in einem Phänomen gibt, allgemeine philosophische und theologische Prinzipien. Bevor mit der Seinsordnung verglichen wird, ist zunächst das phänomenologische Straffen durchzuführen: Hier werden die Beobachtungen zusammen-gelegt, verglichen und daraus gemeinsame Konstanten oder ein Hauptnenner bzw. ein „Zentralgedanke“ herausgelesen.[328] Solch ein Begriff oder ein Bild, in dem sich typische Zeitphänomene bündeln, kann auch die Form eines Ideals haben. J. Kentenich spricht von einem „allgemeinen Zeitideal“[329]. Er verfolgt das Ziel, „alle sorgfältig gesammelten kleinen Nachrichten und Stimmungen jeweils zu einem Gesamtbild zu vereinigen und zur Grundlage für kluge, strategische Maßnahmen zu machen.“[330] Dort, wo ein größerer Radius des Vergleichens angewandt wird, kann man induktiv zu „letzten Prinzipien“, zu allgemeinen Einsichten über das „Sein“ kommen. Kentenich spricht dann von metaphysischem Straffen. So hat er z.B. aus der Zeit heraus neu formuliert, was das Wesen der Frau und des Mannes ist.[331]

An dieser Stelle kann die funktionale Analyse angeschlossen werden. Zu fragen ist also nach den Bezugsproblemen, die einer bestimmten Strömung zugrunde liegen. Dies können vordergründige, eher zeitbedingte und dann aber dahinterliegende, anthropologisch konstante sein. J. Kentenich spricht von „Zeitbedürfnissen“ und „Zeitnöten“. Im Falle der Zeitenstimme „Frausein“ könnten dies z.B. sein: die Suche nach Anerkennung, nach Geliebtsein, attraktiv erscheinen, nach Formen, sich in einer männerdominierten Arbeitswelt durchzusetzen, Selbstentfaltung. Die Strömungen als Versuch der Lösung der Bezugsprobleme sind dabei kontingent. Oft gibt es mehrere Strömungen (systemtheoretisch gesprochen: Programme) gleichzeitig, die sich wechselseitig durchdringen, aber doch voneinander unterscheiden lassen. Sie können auch zueinander in Konkurrenz stehen.[332]

(4) Schließlich werden die erkannten Prinzipien neu auf das Leben hin angewandt.  Sie haben also ein bestimmtes Handeln zur Folge und prägen auch die nachfolgenden Beobachtungen. Ggf. müssen die Einsichten daraufhin nochmal korrigiert werden. So schließt sich also der hermeneutische Zirkel. Kentenich leitete aus den erkannten Bezugsproblemen bestimmte Handlungsziele ab (z.B. im Blick auf Erziehung, Apostolat und Erkenntnis) und entwickelt daraus langfristige und globale „Strategien“ und kurz- oder mittelfristige „Taktiken“. Nach dem „Gesetz der ausgezeichneten Fälle“[333] werden dann solche Modell-Lösungen angewandt und Veränderungen in der Gesinnung der Menschen, wie auch in den Strukturen des Zusammenlebens angestrebt. Kentenich war überzeugt, dass sich das gesunde Leben am Ende durchsetzen würde.[334]

Der Erkenntnisvorgang bei Kentenich kann nun als eine Dialektik von Leben und Idee beschrieben werden, worin sich eine Gewisse Parallele zu J. Cardijn zeigt.[335] Mit Leben sind in diesem Zusammenhang menschliche Erlebnisse und Erfahrungen gemeint, die sich aus dem (oft nur unbewussten) Anwenden von Ideen ergeben oder aber auch reine Widerfahrnisse sind. Idee umfasst ein Wissen um die Inhalte des Glaubens und des Lebens, also auch ein Wissen um allgemeine (seinsmäßigen) Gesetzlichkeiten vom Menschen und vom Sozialen. Jeder Mensch hat hier seine Alltagstheorien, die die ihm helfen, das Leben zu verstehen. Diese können mehr oder weniger verallgemeinerbar und zutreffend sein. Das neue und originelle ist bei Kentenich v.a. die Akzentsetzung auf das Leben, bzw. das Wahr- und Ernstnehmen von Vorgängen in der Seele.[336] 

4.6 Leistungsfähige Unterscheidungen 

Wesentlich für unser Sehen im Allgemeinen, wie nun auch für das kairologische Beobachten ist die Selektion der Unterscheidungen. Wie bereits erläutert, generiert jede Unterscheidung zwangsläufig blinde Flecken. Ärgerlich wäre es nun, wenn durch eine schlechte Wahl einer Unterscheidung die Botschaft Gottes verdeckt oder nur verzerrt wahrnehmbar würde. Die These ist nun die, dass dies in der Kirche all zu häufig geschieht. Aus der Sicht der Theorie der Bobachtung zweiter Ordnung ist nun nicht die Frage, ob eine Unterscheidung richtig oder falsch ist, sondern, ob sie im Blick auf das Gesuchte leistungsfähig, hilfreich, angemessen ist.

Nichts spricht also grundsätzlich gegen Unterscheidungen wie: „christlich – unchristlich“,“ katholisch – nicht katholisch (genug)“, „entspricht der kirchlichen Lehre – entspricht nicht der kirchlichen Lehre“, „moralisch – unmoralisch“, „gut – böse“, „richtig – falsch“,  „gerecht – ungerecht“, „gefällt mir – gefällt mir nicht“. Die Frage ist, was diese Unterscheidungen leisten, im Blick auf die Frage nach dem Willen Gottes. Die Behauptung ist nun folgende: Durch eine eindimensionale, zudem oft vorschnelle ethische Unterscheidung und Bewertung werden wir erstens den Zeiterscheinungen/Personen/Ereignissen nicht gerecht und zweitens übersehen wir Gottes Botschaft an uns. Das kairologische Potential in der Zeit wird dann nicht genügend ausgeschöpft.

4.6.1 Doppelte Unterscheidung

J. Kentenich schlägt für das Verstehen der Zeitenstimmen nun eine doppelte, sich überlagernde Unterscheidung vor: eine ethisch-religiöse (Unterscheidung von Gut und Böse) und eine zeitenstimmenmäßige (Frage nach Gottes Wille).

Aus der Gesamtheit und Vieldeutigkeit des objektiven Geistes einer Zeit gilt es zu unterscheiden zwischen dem Geist der Zeit und dem Zeitgeist. Kentenich lehnt sich hierbei an die  „Unterscheidung der Geister“ von Ignatius von Loyola an. Für die Zeitanalyse gibt er den Geistern und vor allem ihrem Zueinander eine etwas andere Bedeutung. Er definiert:

„Wie häufig finden Sie in unserem Schrifttum das Wort: vox temporis vox Dei. Zur Erklärung sei darauf hingewiesen, daß wir in unserer Denke- und Sprechweise einen Unterscheid machen zwischen Zeitgeist und Geist der Zeit. Wir gehen von der Überzeugung aus, daß nicht der Teufel, sondern Gott der Zeitenlenker ist. Gott spricht durch den Geist der Zeit, der Teufel durch den Zeitgeist. Im ersten Fall ist das Gute, im zweiten Fall das Böse gemeint, was in einer Zeit lebt, was sie durchbebt und was die öffentliche Meinung bestimmt.“[337]

J. Kentenich betont, dass es darum geht den Geist der Zeit aufzugreifen, ihn zu stärken und durch ihn den Zeitgeist zu überwinden.[338] Entscheidend ist nun aber die Erkenntnis Kentenichs, dass es den Geist der Zeit und den Zeitgeist empirisch, also in den konkreten Zeiterscheinungen, nie alleine und getrennt voneinander gibt. Aufgrund dieser Erkenntnis kommt die zweite zeitenstimmenmäßige Unterscheidung ins Spiel. Im Zeitgeist, dem Negativen der Zeit, ist auch der Geist der Zeit - also das von Gott gesagte und gewollte - enthalten. Umgekehrt haftet den Rändern der Konkretisierungen des Geistes der Zeit auch immer Negatives an. Die jeweiligen Vermischungen von Zeitgeist und Geist der Zeit sollen an mehreren Beispielen erläutert und plausibilisiert werden.

In Kap 4.3. wurde ein Beispiel genannt, wie jemand im persönlichen Leben negative, leidvolle Ereignisse, im Nachhinein als gnadenvoll deuten können. Dies entspricht auch der Beobachtung N. Luhmanns für die spezifisch religiöse Kommunikation: Stelle jeder positiven und jeder negativen Erfahrung einen positiven Sinn gegenüber!“[339] Solche Deutungen auch für ganze Gruppen oder Gesellschaften vorzunehmen, ist sicher ein schwieriges und heikles Unterfangen, aber immer wieder auch plausibilisierbar.[340]

Wichtiger und aussagekräftiger als einzelne Ereignisse sind für Kentenich nun jedoch Strömungen. Hier wird das Ineinandergreifen Zeitgeist und Geist der Zeit deutlicher. Denn auch jede positive Strömung führt Geröll mit sich, neigt also zu Einseitigkeiten, Übertreibungen, Ausblendungen. Da wo Strömungen von ihren menschlichen Trägern ausgedrückt und gelebt werden, vermischen sie sich immer auch mit Allzumenschlichem, selektiver Wahrnehmung, möglicherweise auch mit Machtstreben, beleidigtem Herzen, persönlichen Problemen. Umgekehrt haben auch negative Strömungen immer auch positive Elemente oder zumindest eine positive Botschaft.

Zweifelsohne kann die anfangs oft skeptisch beäugte Frauenbewegung des letzten Jahrhunderts insgesamt als großer Segen bewertet werden. Sie ermöglichte Frauen mehr Freiheit, Raum zur Selbstentfaltung und größere Wertschätzung. Doch gleichzeitig hat die Bewegung zur Verunsicherungen geführt, ob es denn nun so etwas wie typische Wesenszüge von Frauen und Männern gibt, und wie diese beschreibbar sind. Soll eine selbstwusste, moderne Frau heute berufstätig sein, oder kann sie sich auch mit der Mutterrolle begnügen? Hat der Zugewinn an Freizügigkeit in Lebensstil und Kleidung dazu geführt, dass Frauen in ihrem Wert und ihrer Würde gesehen und geachtet werden? In welchem Maß ist die geschlechtliche Identität konstruierbar? Ist also das soziale Geschlecht (Gender) tatsächlich so unabhängig vom biologischen Geschlecht (sex) und deshalb reines Produkt von Interaktions- und Zuschreibungsprozessen (Doing Gender), wie es das Gendermainstreaming nahe legt? 

Wie Kentenich im Blick auf eher negative Zeitströmungen gedacht hat, wird auch an folgendem Beispiel aus dem Jahre 1929 deutlich: In den gesellschaftlichen Großströmungen sieht er einen „kollektivistischen Zeitgeist“ bzw. ein „Massenmenschentum“ aufziehen, dem er begegnen will: „Fürchten Sie nicht Sozialismus und Kapitalismus, und wie alle diese Zeitkrankheiten heißen mögen! Sie sind von Gott zum Wohle der Kirche zugelassen. Sie haben eine große Aufgabe. Und wir sind berufen, diese Aufgabe mit an erster Stelle lösen zu helfen.“[341] Angestoßen durch diese Strömungen formulierte J. Kentenich die Zeitaufgabe, einen neuen, christlichen Menschentyp zu erziehen.

Häufiger zitiert J. Kentenich Augustinus, der dazu auffordert, die Irrlehren für das eigene Identitätsbewusstsein zu nutzen: „Utamur ergo etiam haereticis, non ut eorum approbemus errores, sed ut catholicam disciplinam adversus eorum insidias asserentes vigilantiores et cautiores simus.“[342] Papst Johannes XXIII. hat die Anwendung dieses alten Gesetzes für die Kirche erneut zum Auftrag gemacht und dabei nicht nur innerkirchliche Strömungen in den Blick genommen, sondern auch außerkirchliche. Eine Aussage, die während des Zweiten Vatikanischen Konzils zum geflügelten Wort avancierte, lautet: „Macht die Fenster der Kirche weit auf!“ Diesen neuen Ton schlägt er auch bei seiner Eröffnungsansprache des Konzils an, in der er ausdrücklich nicht nur von „Fehlentwicklungen“ spricht, sondern auch von „Chancen des modernen Zeitalters“.[343] Das Zweite Vatikanische Konzil räumt dann ein, dass auch außerhalb der Kirche „vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind.“ (LG 8)

Dass Zeitenstimmen „weit draußen“ also gerade auch im negativen Zeitgeist besser zu vernehmen sind als im Innenraum der Kirche, ist eine gewichtige ekklesiologische Aussage. Der Geist Gottes weht also auch außerhalb der Kirche. Und zeitgeistige Strömungen sind oft schneller im Erkennen von Trends, durch die Gott den Menschen etwas sagen will.[344]  Die Provokation und Herausforderung einer negativen Strömung kann als positiver Anruf Gottes gedeutet werden, als Aufforderung, sich zu fragen: Steckt im Zeitgeist auch ein berechtigtes Anliegen? Gibt es wahre Aspekte in einer Aussage oder Strömung? Ist damit eine wichtige Anfrage an die Kirche verbunden? Und gibt es Stellen im Zeitgeist, wo das Taufwasser auftreffen kann, wo man positive Elemente aufgreifend in den christlichen Sinn- und Lebenszusammenhang stellen kann?[345] In einer Studie aus dem Jahr 1956 drückt J. Kentenich sein Anliegen wie folgt aus:

„Eine besondere Aufgabe glauben wir allezeit darin zu finden, den Geist der Zeit der Schutzhaft zu entreißen, in die der Zeitgeist durch Gewalten der Finsternis ihn geschlagen, und dem Zeitgeist die Protest- und Trotzhaltung zu nehmen, die er mit dem Pubertätsalter gemeinsam hat, solange man ihm keine positiven Ziele gegenüberstellt.“[346]

Hier klingt wieder mit, dass auch der Zeitgeist ein berechtigtes Bezugsproblem im Hintergrund stehen hat, das es zu erkennen und in christliche, heilvollere Bahnen zu lenken gilt. In der Unterscheidung von Zeitgeist und Geist der Zeit ist also die wichtige Aufgabe zu leisten, die fehlgeleitete Erlösungshoffnung des Menschen auf Jesus Christus hin zu lenken. Wichtig ist auch, mit Vorläufigem, Uneindeutigem und Ambivalenzen umgehen zu können. Vor allem der Soziologe Zygmunt Bauman macht darauf aufmerksam, dass dies ein wesentliches Merkmal der Postmoderne ist. Das „Ende der Eindeutigkeit“ ist nach Z. Bauman nicht einfach als Verlust zu begreifen, sondern vielmehr als Gewinn. Eine produktive Vieldeutigkeit kann helfen, die Sinnfülle und Multidimensionalität des Lebens sowie den Reichtum der Geschichte zu erfassen.[347] Aus schöpfungstheologischer Sicht kann gewürdigt werden, dass somit die Vielfalt und Vieldeutigkeit der geschöpflichen Wirklichkeit unverstellt an den Tag kommen.

Die Botschaft einer Strömung zeigt sich oft erst nach einer gewissen Zeit. Die Strömungen, wie das Deuten selbst, haben also prozesshaften Charakter. Sie entstehen über eine bestimmte Zeit hinweg, sind ständig im Fluss und können dann auch wieder abebben. Zeitenstimmen sind außerdem immer zeitbedingt. Gott spricht darin immer in eine bestimmte Zeit, in einen konkreten Kontext und zu bestimmten Menschen oder zu Kollektiven. Mit den Zeiten können sich so auch die Bedeutungen der Zeitenstimmen wandeln.

Ob schließlich in eher zeitgeistigen Ereignissen das Gute und von Gott gewollte herausgelesen werden kann, hängt auch stark davon ab, in welchem Bezugsahmen diese betrachtet werden. Bei J. Kentenich ist dies das beschriebene Ideal und Bild der Kirche am „neuesten Zeitenufer“, das mit der spezifischen Denkform des organischen Denkens verknüpft ist. Ohne diesen „bedeuten die gleichen Phänomene Abfall, Zerfall, Herrschaft des Teufels. Wo sie doch Zeichen des Neuen sind, das es zu gestalten gilt, auch wenn es noch im Rohzustand und als manchmal amorphe Masse angetroffen wird“,[348] so H. King.

4.6.2 Einfühlung und Gegensatz

Um Zeitgeist und Geist der Zeit unterscheiden zu können, ist es von Bedeutung, die Strömungen möglichst gut und von innen heraus zu verstehen. Wie bereits beschrieben ist dabei der Blick auf die Vorgänge in den Seelen der Menschen wichtig. Um die geistigen Strömungen einer Zeit aufzufangen, legt Kentenich eine Methode vor, die in der gemeinsamen Anwendung von Einfühlung in fremde Art und Unart und dem Erkennen des Gegensatzes liegt. Beide Aspekte gehören eng zusammen und sind laut H. King „zwei Seiten oder auch Phasen eines Vorgangs.“[349] Kentenich betont, dass man zunächst herausheben solle, was Wertvolles in der fremden Strömung steckt. Er begründet dies vor allem mit dem Vorsehungsglauben, „der sagt uns ja, daß der liebe Gott diese Dinge uns nahebringt, um uns etwas zu sagen. Wir müssen es nur in der rechten Weise verstehen.“[350] Wichtig ist also ein Bemühen, sich zunächst möglichst wertfrei in die Strömung einzufühlen und versuchen zu verstehen, was beim Anderen dabei vorgeht.

Als zweiter Schritt ist es dann von Bedeutung, immer auch den Gegensatz des eigenen Standpunktes festzustellen und aus dem Wissen um die eigene Identität ggf. ein klares „Nein“ zu sprechen. Laut H. King gilt es dann aber weiter zu fragen: „Von der eigenen Identität und dem Nein aus kann dann umso mehr und sicherer der Frage Raum gegeben werden, ob bei mir, bei uns nicht etwas fehlt bzw. ob in der eigenen (christlichen) Identität nicht Elemente sind, die zu wenig entfaltet sind.“[351]

Diese Mischung von Ablehnen und Aufnehmen entspricht auch dem oben zitierten „Utamur haereticis“ bei Augustinus. Kentenich stellt heraus, dass es für das Herauslesen des Wahren in den negativen Strömungen eine bestimmte Einstellung braucht. Diese beschreibt er näher als „gütig-wohlwollende, ehrfürchtige Freiheitshaltung jeglicher anderen Art gegenüber.“[352] Dabei gilt es aber immer wieder, die eigene Identität zu betonen und zu wahren. Jedoch verlangt die neue heraufsteigende Zeit eine wohlwollend-duldsame Koexistenz der verschiedenen Glaubensbekenntnisse nebeneinander. Und er fügt hinzu: „Gerade deswegen ist bei aller Ehrfrucht vor fremder Überzeugung die Betonung des geistigen Anti so eminent wichtig.“[353]

Das Fremde kann dabei systemtheoretisch als Umwelt betrachtet werden. Die Beobachtung der Umwelt geschieht dabei immer vom Standpunkt der eigenen Identität und dient gleichsam seiner Konstruktion und Stabilisierung. Für die Stabilität des eigenen Systems bzw. der eigenen Identität ist es nun von großer Bedeutung, im Spannungsfeld Öffnung und Schließung ein gutes Maß bzw. einen guten Weg zu finden. Beide Extreme gefährden die Stabilität des Systems. Eine einseitige Öffnung würde zur Angleichung an die Umwelt führen und so die Identität auflösen. Eine vollkommene Schließung würde das System von lebenswichtigen Entwicklungen und Ressourcen abschneiden, es wäre für andere Kommunikationssysteme nicht mehr anschlussfähig, könnte seine Funktion für das Gesamtsystem nicht mehr leisten und  würde als irrelevant erscheinen.  Beide Tendenzen sind in der katholischen Kirche aktuell zu beobachten. Die neue Öffnung zur Welt hin, die das Zweite Vatikanische Konzil vollzogen hat, hat an manchen Stellen zu einer starken Angleichung an die Welt geführt, die die eigene Identität verwässert hat.[354] Kentenich stellt bereits 1942 eine  „Weltseligkeit“ und „Diesseitsversklavung“ fest.[355] Von da aus gesehen wird auch der Aufruf von Benedikt XVI. zur „Entweltlichung“ der Kirche verständlich.[356]

Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es traditionalistische Kreise in der Kirche, die sich stark gegenüber der Welt verschießen und abschotten. Christentum kann hier zur Ideologie werden und sich so jeder Selbstkritik verschließen. H.-J. Höhn spricht hierbei von einer „Ideologiefalle“.[357]  Die Folge ist, dass solche Gruppierungen auf pures Unverständnis treffen und oft nur noch belächelt werden. Gleichzeitig kann von solch einem Standpunkt auch vieles in der Welt nicht mehr verstanden werden, bzw. nur sehr verzerrt in Kategorien von schwarz und weiß. Gottes Geist und Wille kann von da aus nur schwer erreicht werden. Es gilt letztlich, die Spannung der Existenzweise des Christen ernst zu nehmen, in der Welt und doch nicht von ihr zu sein.[358]

Ein bestimmtes Maß an Schließung ist dazu wie gesagt auch nötig. Vor allem in einer Phase, wo die eigene Identität noch nicht stark genug ausgebildet ist. Ist die eigene Identität jedoch gefestigt und hat man (als Individuum oder als Gruppe) einen sicheren Selbststand bzw. einen ausgebildeten „Glaubensgeist“, kann es der eigenen Identität und Vitalität nur gut tun, sich auf Neues einzulassen, sich herausfordern und in Frage stellen zu lassen. Dabei gilt es, in organische Kontinuität das Eigene, also auch das seinsmäßige, zu bewahren, jedoch auch neue Gesichtspunkte aufzunehmen und so in einen Dialog mit dem Fremden zu kommen. Der neue Gesichtspunkt ist dabei ein dynamisches, auch kritisches Prinzip. Er hilft, einen neuen Blick auf ein Thema zu gewinnen, dieses neu zu ordnen und ein tieferes Verständnis zu erhalten.[359] Prozesse der Öffnung, des Hereinlassens von Neuem und Fremdem sollten sich insgesamt abwechseln mit Zeiten der Schließung, wo das Eigene mehr betont wird, wo Neues verarbeitet, Weiterführendes assimiliert und so in den eigenen Organismus integriert wird. Also wie weiter oben beschrieben, soll der Zeitgeist in sich aufgenommen, aber durch spezifische Selektion dabei auch ausgegrenzt werden.[360]

In der Kirchensoziologie hat sich in den letzten Jahren immer mehr das Konzept der Sinus-Milieus etabliert. Damit wird die Gesellschaft nach bestimmten Lebensauffassungen und Lebensstilen gruppiert. Oft kommen die Milieus kaum miteinander in Austausch und können die je anderen nur begrenzt verstehen. Es wurde festgestellt, dass die Kirche zu mehreren Milieus kaum Zugang hat. Wenn sie jedoch mit der Welt, der Zeit und allen darin lebenden Menschen in Kontakt sein will (und das würde ihrem Anspruch entsprechen), dürfte sie eigentlich nicht ganze Milieus systematisch ausklammern. Hinsichtlich dem Erkennen der „Zeichen der Zeit“, wäre es v.a. wichtig, die Fühlung zu jenen Milieus herzustellen, in denen neue Trends entstehen.[361] In diesen weht zwar im Sinne Kentenichs auch viel Zeitgeist, aber immer in besonderer Weise auch der Geist der Zeit – also das, was Gott der Welt sagen will, mit dem er Welt und Kirche letztlich näher an die Verwirklichung des Reiches Gottes, bzw. des Neuen Zeitenufers führen will. Wendet man sich jedoch in einer Pfarrei nur einzelnen Milieus zu, entsteht die Gefahr des „going nativ“. Dabei geht der Kirche dann schnell ihr kritisches Potential verloren. Michael N. Ebertz spricht von einer „Affirmationsfalle“. Diese tut sich „nicht nur gegenüber den Hedonisten bzw. Eskapisten auf, sondern auch im Blick auf die anderen Milieus. Eine Religion der ‚Compassion‘ (Johann B. Metz) wie die christliche kann auch nicht einfach den Milieus der Konservativen und Etablierten bzw.  Arrivierten das geben, was diese zur Statuslegitimation faktisch erwarten. […] Eine christliche Pastoral muss den Horizont aufreißen auf den hin, den die Christen Christus nennen.“[362]

Für die Methode ist wichtig, sich klar zu machen, dass man immer vom Standpunkt der eigenen Identität heraus beobachtet und dadurch kontingente Unterscheidungen wählt. Wichtig ist, sich die eigene Identität und die dazugehörigen typischen Perspektiven möglichst stark bewusst zu machen. J. Ostheimer beschreibt dieses Vorgehen: „Im Gegensatz zur Husserlschen Vorgehensweise der epochê, die Vorannahmen methodisch einklammert, wird  hier auf der Basis der Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung gemäß dem Prinzip der Autologie das immer schon gegebene Vorverständnis explizit gemacht und epistemologisch analysiert.“[363] Dabei sollte man sich auch immer wieder bewusst machen, dass andere eine andere Identität haben, von der aus sie anders und anderes sehen. Auch der weibliche Blick auf die Welt bzw. ein weibliches Bewusstsein wird andere Akzentsetzungen, Fokussierungen und Schärfen in seinen Unterscheidungen haben. Ob dieses Sehpotential in der Kirche (in der Theologie, im Lehramt, in der Pastoral)  genügend ausgeschöpft wird, kann bezweifelt werden.

Vor dem Hintergrund der Vielgestaltigkeit, Vielfalt und Komplexität der Lebenswelten und Teilbereiche der Gesellschaft wird deutlich: Für größere Sozialgebilde bzw. für ganze Gesellschaften können „Zeichen der Zeit“ heute eigentlich nur in Gemeinschaft gedeutet werden. Nur wenn verschiede, sich ergänzende Perspektiven zusammengelegt werden, können blinde Flecken reduziert und Wirklichkeit hinreichend gut erfasst werden, um in ihr dann den Willen Gottes herauszulesen. Auch J. Kentenich betont: „Was einer allein früher tat, das müssen Sie nachher als Team tun.“[364]

4.7 Bedingungen beim Zeichendeuter

Wer kann und soll Zeichen der Zeit deuten? Braucht es eine besondere Qualifikation oder Amtsgnade dafür? Zunächst ist festzuhalten, dass jeder Christ Zeichen der Zeit deuten kann und soll. Jeder Christ hat Zugang zu den Erkenntnisquellen Sein, Seele und Zeit, sowie dem Lehramt und der Heiligen Schrift. Jeder ist zur schöpferischen Mitgestaltung am gottgewollten Zukunftsbild aufgerufen. In der Taufe erhält der Christ durch die Ausgießung des Heiligen Geistes die grundsätzliche Befähigung und Anteil am Prophetentum Jesu Christi.  Auch das Konzil hatte deutlich gemacht, dass hierin auch die Laien eine besondere Begabung haben können. Im Dekret über Dienst und Leben der Priester werden diese aufgefordert, die Laien in diese Tätigkeit einzubeziehen, „damit sie gemeinsam mit ihnen die Zeichen der Zeit verstehen können.“ (PO 9) Doch trotz  der Gleichheit des Potentials für das Deuten von Zeichen der Zeit, ist dieser Vorgang an eine Reihe von Hör- und Sehfähigkeiten geknüpft, die nicht bei jedem Menschen gleich ausgebildet sind. Vieles ist schon angeklungen, aber manches wurde noch nicht erwähnt. Deshalb sollen hier einige Bedingungen und Eigenschaften für die zeichendeutenden Personen aufgezählt werden,
die die Wahrscheinlichkeit einer validen Deutung erhöhen. Zu unterscheiden ist zunächst, ob „Zeichen der Zeit“ von Menschen im Blick auf ihr eigenes Leben gedeutet werden, oder ob man sich für Gruppen und größere Kollektive interessiert. Die zweite Form ist in der Regel die anspruchsvollere. Um sie geht es in dieser Arbeit auch hauptsächlich.

J. Kentenich betont den Charakter der Gabe bzw. des Geschenks und spricht von einem „charismatisch geformten Empfinden für die göttlichen Wünsche […], die er in seiner Kirche im Sinne des neuesten Ufers verwirklicht wissen will.“[365] Das richtige Greifen von Zeitenstimmen setzt demnach ein ausgesprochenes Talent, „eine gewisse Anlage“[366] voraus. Aber Kentenich betont auch, dass die Kunst, Zeitenstimmen zu vernehmen, auch zu einem gewissen Grade erlernbar sei. Ein längeres Zitat fasst wesentliche Eigenschaften zusammen:

„Man sage nicht, dass ist eine Kunst, die man nicht lernen kann. Ich möchte demgegenüber behaupten: führt man selber ein Innenleben, wendet man die oben genannte Betrachtungsmethode getreulich an, leitet man die Seelen, so wie wir das kurz angedeutet haben, bemüht man sich um eine philosophische Zusammenschau letzter Wahrheiten und Wirklichkeiten und um standhafte Beheimatung darin, ringt man gleichzeitig um inneres Gelöstsein von sich und Geöffnet sein für fremde Art und Unart, für fremde Not und fremdes Ringen, so bekommt man früher oder später eine Gewandtheit […] Kommt eine tiefe Liebe zum Gegenüber hinzu, so ist die rätselhafte Kunst schnell gelernt.“[367]

„Straffende“ Tätigkeit erfordert neben einem gewissen Maß an Wissen über theologisch-philosophische Zusammenhänge vor allem diskursiv-analytisches, organisches und zusammenschauendes Denken. Aber auch Intuition und ein gewisses Maß an psychologischen Kenntnissen sind nötig, um die Verhaltensweisen der Menschen auf ihre Bezugsprobleme hin zu ergründen.

Um die Welt und das Leben wirklich im Licht der göttlichen Vorsehung zu sehen und Zeitenstimmen tatsächlich als Gottesstimmen zu verstehen, braucht es freilich einen fundierten Glauben, Kentenich spricht von einem „Glaubensgeist“. Er sagt: „Es ist allemal derselbe hochentwickelte Glaubensgeist; es ist derselbe göttliche Witterungssinn oder übernatürliche Instinkt, der mit eigenartiger Sicherheit die göttliche Zukunftsplanung mit Welt und Kirche aus den Zeitverhältnissen heraus liest.“[368]

Zeitendeutung hat auch etwas Prophetisches. Somit wird auch deutlich, dass es für das Aussprechen solcher Deutungen immer Mut braucht und aus verschiedenen Gründen auch eine „kraftvolle Persönlichkeit“[369] erfordert. Denn das Deuten von Ereignissen ist bei aller grundsätzlichen Kontingenz immer anzweifelbar. Auch dadurch, dass es z.T. entlarvenden und provozierenden Charakter hat, macht man sich angreifbar und kann Widerspruch und Gegenwehr auf den Plan rufen.

Außerdem sollte sich der Zeichendeuter immer auch der eigenen Identität und deren Gewordensein und somit auch der Subjektivität seiner Aussagen bewusst sein. Nie kann er alles überblicken und hundert Prozent Wahres aussagen. Denn die grundsätzliche empirische Vermischung von Zeitgeist und Geist der Zeit gilt auch für seine eigenen Aussagen. H. King betont: „Jedenfalls kann keiner mit Zeitenstimmen umgehen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Ohne ein Stück weit sich immer auch wieder zum Komplizen von Einseitigem und Übertriebenem zu machen.“[370]

Hier klingt bereits ein weiterer Aspekt auf der Ebene der Psyche und Persönlichkeit des  Zeichendeuters an: Es geht um die Kunst und die Reife, gesunde Demut mit einem gesunden Selbst- und Sendungsbewusstsein zu verbinden. Ob ich die zeitenstimmenmäßige Unterscheidung zulasse, hängt auch damit zusammen, ob ich grundsätzlich offen für Anfragen bin, ob ich bereit bin, mich in meiner Identität herausfordern und verändern zu lassen, bereit bin, neue Gesichtspunkte kennen zu lernen. Es braucht auch eine kritische Selbstreflexion im Sinne der Beobachtung zweiter Ordnung: sich prüfen hinsichtlich möglicher selektiver Wahrnehmung, seiner Vorverständnisse, Vorentscheidung.  Man sollte sich also seiner eigenen Subjektivität[371] und Begrenztheit bewusst sein. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass man Zeichenstimmen auch in einer Gruppe deuten sollte und sich dabei vom eigenen Recht-haben-wollen distanzieren sollte. Man muss auch mit Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und Vorläufigkeiten leben können. P. Vautier betont: „Das Ringen um innere Freiheit ist eine wichtige Voraussetzung für eine gute Unterscheidung.“[372] So sollte der Einzelne möglichst gelöst sein von ichhaftem Geltungsstreben, also nicht prophetisch reden, weil er Prophet sein will, sondern vielmehr, um sich „zur Ausführung geheimnisvoll göttlicher Planung als Werkzeug zur Verfügung zu stellen.“[373] In der Haltung der Werkzeuglichkeit verbinden sich somit Demut und das Bewusstsein der Größe und Würde von eigener Person und Aufgabe und können so in eine Entschlossenheit münden, für „die Sache Jesu“ mutig das Wort zu erheben.

Gefordert ist auch eine eigentümliche Verbindung von Gott- und Weltverbundenheit, eine Gleichzeitigkeit von Identität bzw. Selbstbesitz auf er einen Seite und Geöffnet-Sein gegenüber der Welt und Gott auf der anderen. Bei Kentenich avancierte zum geflügelten Wort, er hätte „die Hand am Puls der Zeit, und das Ohr am Herzen Gottes.“[374]

J. Ratzinger spricht in diesem Zusammenhang von der notwendigen „Verbindung von Heiligkeit und Aggiornamento […]: als Eingehen auf den Kairos muß es zugleich Diakrisis seiner Geister aus dem Stehen im einen Geist des Herrn sein.“[375] Beim Begriff der Heiligkeit klingen auch gewisse Dispositionen des Charakters bzw. des Herzens mit, wie z.B. Einfühlung und die Fähigkeit, fremdes Leid wahrnehmen zu können.[376] Weltdistanz und Weltliebe gehen beim Christen immer zusammen. 

 



[248]    Ostheimer, Jochen (2008): Zeichen der Zeit, 33.

 

 

 

[249]    Cardijn, Josef (o. J.): Führe mein Volk in die Freiheit!, 44–46; vgl. dazu auch die Analyse von Stephanie Klein: Klein, Stephanie (2005): Erkenntnis und Methode in der Praktischen Theologie, 71–77.

 

 

 

[250]    Dies geschieht v.a. indem der erste Blick auf die Realitäten der Menschen gerichtet wird: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (GS 1)

 

 

 

[251]    Vgl. Zulehner, Paul M. (1991): Fundamentalpastoral.

 

 

 

[252]    Vgl. Zerfaß, Rolf (1974): Praktische Theologie als Handlungswissenschaft.

 

 

 

[253]    Vgl. Klein, Stephanie (2005): Erkenntnis, 77–85.

 

 

 

[254]    Bereits während des Zweiten Vatikanischen Konzils gab es hier Bedenken und Einwände. Dies geht beispielsweise aus der Expertise von Karl Rahner für die Fuldaer Bischofskonferenz am 31. August 1965 hervor, in der er vor allem anmahnt, dass die Grenzen des Dokuments nicht klar genug herausgestellt sind. So gebe es „keine hinreichende theologische Kriteriologie, um die Erkenntnis der konkreten Situation der heutigen Welt […] und die wirklich praktischen und konkreten Folgerungen, die sich aus dieser Situation ergeben, unterscheiden zu können. Was der Glaube im Hinblick auf diese so erhobene Erkenntnis bedeutet, was er nicht aufzeigen kann, welches die Mittel und Quellen für diese Erkenntnis sind, wird nicht wirklich und ausreichend in Erwägung gezogen.“ Zitiert nach Sander, Hans-Joachim (2005): Theologischer Kommentar, 651.

 

 

 

[255]    Kentenich würde vom „objektiven Geist der Zeit“ sprechen; vgl. Kap 2.2.2.1.

 

 

 

[256]    Theobald, Christoph (2006): Theologie der Zeichen, 72; vgl. dazu auch die Ausführungen in Kap. 3.2. über die Denkfigur der Relativität und den Zusammenhang zur Wahrheit und zum Dogma. Dass es in der Methode Entwicklungen und Veränderungen geben darf, kommt in der Pastoralkonstitution selbst zum Ausdruck, wenn sie herausstellt, dass das Deuten „in einer jeweils deiner Generation angemessenen Weise“ (GS 4) geschehen solle. 

 

 

 

[257]    Vgl. Knobloch, Stefan (1995): Was ist Praktische Theologie?, 195–219; hier: 219.

 

 

 

[258]    Klein, Stephanie (2005): Erkenntnis, 91f.

 

 

 

[259]    Jochen Ostheimer stellt hierbei auch fest, dass die Abfolge von Kairologie und Kriteriologie in verschiedenen praktisch-theologischen Theoriegebäuden variiert wird. Während Zulehner vor dem kritischen Blick auf sozialwissenschaftliche Diagnose (Kairologie) mit der Kriteriologie beginnt, stellen andere die kritische Wahrnehmung an den Beginn und beurteilen sie anschließen im Blick auf das Evangelium. Jedoch auch diese Ansätze berufen sich auf Zulehner. Vgl. Ostheimer, Jochen (2008): Zeichen der Zeit, 102f.

 

 

 

[260]    Klein, Stephanie (2005): Erkenntnis, 71f. Ganz ähnlich äußert sich auch Peter Hünermann. Im Rückgriff auf Bernhard Welte beschreibt er, dass jede Daseinsauslegung grundsätzlich die Struktur des Glaubens hat. Nur im Vollzug eines fundamentalen Vertrauens kann der Mensch den ungeprüften Boden der Zukunft betreten. „Nur im Vollzug eines Glaubens, ist Dasein des Menschen überhaupt möglich. […] Dieser daseinskonstitutive Glaube ist als implizit religiöser Glaube zu charakterisieren, da er auf Sinnhaftigkeit jenseits aller Grenzen zielt.“ Hünermann, Peter (2006): Gottes Handeln, 117.

 

 

 

[261]    Damit soll hier kein radikaler Konstruktivismus vertreten werden, der jede Realität nur als reines Konstrukt im Bewusstsein versteht. Aber das Bewusstsein, dass Wirklichkeiten auch mit Konstruktionsleistungen zu tun haben, ist doch nicht von der Hand zu weisen.

 

 

 

[262]    Ostheimer, Jochen (2008): Zeichen der Zeit, 108ff.

 

 

 

[263]    Vgl. zum Deutungsmuster des Glaubenden Kap. 4.3. und 4.4.

 

 

 

[264]    Für eine ausführlichere Analyse vgl. Ostheimer, Jochen (2008): Zeichen der Zeit, 112ff.

 

 

 

[265]    Ebd., Zeichen der Zeit, 114.

 

 

 

[266]    Boff Leonardo (1986): Der Beitrag der Befreiungstheologie zum neuen Paradigma, 172.

 

 

 

[267]    Vgl. Kap. 5.

 

 

 

[268]    Wollte man entscheiden welcher Blick zuerst kommen müsse, käme das der Frage nach Zuvor von Huhn und Ei nahe.

 

 

 

[269]    Womit freilich auch nicht gesagt sein soll, dass es kein sinnvoller Weg ist, über die Lektüre der Heiligen Schrift Gottes Weisungen für das Leben abzulesen. Und es sei auch betont, dass der induktive Weg ohne genügend Glaubenswissen nicht funktioniert.

 

 

 

[270]    Hafner, Johann (2003): Selbstdefinition, 61.

 

 

 

[271]    Vgl. Ostheimer, Jochen (2008): Zeichen der Zeit, 78ff.

 

 

 

[272]    Grözinger, Albrecht (1995): Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, 86.

 

 

 

[273]    Boff, Leonardo (1993): Jesus Christus, der Befreier, 40.

 

 

 

[274]    Kentenich, Josef (1960): Apologia pro vita mea, 114.

 

 

 

[275]    Vgl. dazu Kap. 4.6.2.

 

 

 

[276]    Zitiert nach: Theobald, Christoph (2006): Theologie der Zeichen, 78.

 

 

 

[277] Diese Bewegung hat freilich Vorläufer und ist nicht völlig neu. In Deutschland wird z.B. unterschieden zwischen einer ersten Umweltbewegung die um die Jahrhundertwende vom 19. Zum 20. Jahrhundert entstand und der zweiten Umweltbewegung in den 70er- und 80er-Jahren.

 

 

 

[278]    Hier lässt sich beobachten, dass es in der Kirche nur wenige Persönlichkeiten gibt, die mit größerer Autorität die Frauenfrage ansprechen, um so eine Strömung zu forcieren. Bischöfe melden sich hier selten zu Wort. Am ehesten sind es Theologieprofessorinnen, wie z.B. Marianne Heimbach-Steins, Professorin für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Münster, von der kürzlich zu lesen war: „In der katholischen Kirche gibt es keine Gleichheit in der Stellung der Geschlechter. Es bleit eine unübersehbare Spannung zwischen der Einheit und Gleichheit beider Geschlechter in Christus im Sinne von ‚in Christus ist weder männlich noch weiblich‘ (Gal 3,28) und der tatsächlichen Geschlechterordnung in der Kirche.“ Heimbach-Steins, Marianne (2012): Zitat aus Konradsblatt 2012, Nr. 8, 3.

 

 

 

[279]    Im Zusammenhang mit der Methode: Einfühlung und Gegensatz (4.6.2.) sollen diesen Vorgängen näher nachgegangen werden.

 

 

 

[280]    Vgl. King, Herbert (2008): Freiheit und Verantwortung, 126–135.

 

 

 

[281]    Ebd., 126.

 

 

 

[282]    Ebd., 128.

 

 

 

[283]    Vgl. zum Moment der Sendung und Verantwortung auch die Ausführungen zur vorsehungsgläubige  Anwendung des „Gesetzes der geöffneten Tür“ in Kap. 5.

 

 

 

[284]    Worin sich das gläubige Sehen von einem areligiösen unterscheidet, ist Gegenstand kontroverser Diskussion. Vgl. dazu Ostheimer, Jochen (2008): Zeichen der Zeit, 29f.

 

 

 

[285]    Adler, Nikolaus (1960): Herz, 285.

 

 

 

[286]    Z.B. Offb. 3,22.

 

 

 

[287]    Vgl. dazu die Ausführungen unter 2.2.2.3.

 

 

 

[288]    So umschreibt J. Kentenich diesen Begriff beispielsweise wie folgt: „Beim Christentum ist der Lebensgeist der Geist Christi, der Glaubensgeist, der Glaubenssinn.“ Kentenich, Josef (1950): Oktoberwoche 1950, 124.

 

 

 

[289]    In Kap. 4.7. wird dieser Begriff Kentenichs belegt und in einen größeren Kontext gestellt. Es sei auch kurz verwiesen auf den Zusammenhang von Erkennen und Lieben. Dieser spielt in der christlichen Tradition eine große Rolle.

 

 

 

[290]    Vautier, Paul (2006): Spuren Gottes, 53.

 

 

 

[291]    Vgl. das Zitat in Kap. 2.1.2.

 

 

 

[292]    Werbick, Jürgen (2011): Vater unser, 30.

 

 

 

[293]    Ebd., 31.

 

 

 

[294]    „Er [Gott] Ruft uns in die Teilnehmerperspektive, in die Perspektive der Teilhabe an Seinem guten Willen – der Teilhabe an Seinem guten Geist, dem Geist der Kindschaft, ‚in dem wir rufen: Abba, Vater!‘ (Röm 8,16). Nur in dieser Teilnehmer- und Teilhabeperspektive, die der Abba seinen ‚Kindern‘ und ‚Erben‘ (vgl. Vers 17) erschlossen hat, ist Gott da; nur im Anteilnehmen, im Mithandeln mit Ihm ist Er für uns da, handelt Er an uns und mit uns in der Welt.“ Werbick, Jürgen (2011): Vater unser, 32.

 

 

 

[295]    Kentenich schlägt diese Betrachtungsmethode sowohl für das Erkennen von persönlichen Zeitenstimmen, wie auch für größere Kollektive vor: „Im Nachprüfen und Nachkosten, im Vorprüfen und Vorkosten der göttlichen Erbarmungen und der persönlichen Erbärmlichkeiten in unserem Leben.“ Kentenich, Josef (1953): Brief an P. Menningen, 45.

 

 

 

[296]    Vgl. zu diesem durchaus komplexen Zusammenhang Thomas, Günter (2006): Kommunikation.

 

 

 

[297]    Die Denkfigur des Re-entry, die hier beschrieben wurde, erzeugt eine ganze Reihe von systemtheoretischen und theologischen Anschlussmöglichkeiten. Vor allem eine Gnadentheologische Rezeption könnte m.E. gewinnbringend sein.

 

 

 

[298]    Kentenich, Josef (1953): Brief an Menningen, 45.

 

 

 

[299]    Kentenich nennt hierbei v.a. das „Gesetz der geöffneten Tür“, sowie das „Gesetz der schöpferischen Resultante“, vgl. Kap. 5.

 

 

 

[300]    Vgl. Ostheimer, Jochen (2008): Zeichen der Zeit, 93f.

 

 

 

[301] Auch wenn die Historizität dieses konkreten Beispiels nicht belegt ist, scheint es mir eine realistische Beschreibung zu sein, die in ähnlicher (wenn auch häufig abgeschwächter) Weise einer Erfahrung von vielen Christen entspricht. Ich bin auf das Beispiel durch den Artikel von Guiseppe Ruggieri gestoßen. Vgl. Ruggieri, Guiseppe (2006): Zeichen der Zeit, 70.

 

 

 

[302] Bernanos, Georges (1936): Tagebuch eines Landpfarrers, 333f. Hier zeigt sich, dass zur theologischen Erfassung der Kategorie der „Zeichen der Zeit“ auch eine gnadentheologische Erörterung zu leisten wäre. 

 

 

 

[303] Vgl. Mette, Norbert (1991): Das Problem der Methode in der Pastoraltheologie.

 

 

 

[304]    Ebd., 167.

 

 

 

[305] Kentenich, Josef (1952): Brief an Joseph Schmitz, geschrieben in Santiago /Chile ab dem 3.5.1952, 35. Vergleichbar ist dieses Zielbild auch mit Zulehners Forderung nach einer klaren Zielperspektive, die er im Dreischritt bei der Kriteriologie verortet, die also unser Sehen prägen soll. Schlüsselbegriffe sind bei ihm Frieden, Befreiung, Hoffnung, Leben, Heilen und Volk Gottes. Vgl. Zulehner, Paul M. (1991): Fundamentalpastoral, 54ff.

 

 

 

[306]    Auch K. Lehmann spricht von der „Kirche in einer Zeit des Übergangs.“ Lehmann (2006): Neue Zeichen, 28. Besonders im Jahr 1968 (dem Todesjahr von J. Kentenich) und in den Folgejahren sei es „zu einem Wechsel der geistigen Großwetterlage“ gekommen. Lehmann, Karl (2006): Vatikanum, 21.

 

 

 

[307]    Kentenich, Josef (1949): Studie aus dem Jahr 1949, 90f.

 

 

 

[308]    Kentenich, Josef (1941): Brief vom 31.12.1941, 46.

 

 

 

[309]    Kentenich, Josef (1950): Grundriß einer neuzeitlichen Pädagogik für den katholischen Erzieher, 62.

 

 

 

[310]    King, Herbert (1995): Neues Bewusstsein, 62f.

 

 

 

[311]    Vgl. Schlosser, Herta (1996): Neuer Mensch.

 

 

 

[312]    Vgl. King, Herbert (1996): Neue Gemeinschaft.

 

 

 

[313]    Vgl. Weigand, Rudolf; Wolf, Peter (1996): Kirche.

 

 

 

[314]    Vgl. Schlosser, Herta (1996): Gesellschaftsordnung.

 

 

 

[315]    Vgl. Schlosser, Herta (1996): Organisches Denken.

 

 

 

[316]    Penners, Lothar (1983): Pädagogik des Katholischen, 312.

 

 

 

[317]    Kentenich, Josef (1949): Oktoberbrief 1949.

 

 

 

[318]    Kentenich, Josef (1968): Grußwort Essen = Mit Maria hoffnungsfreudig und siegesgewiß in die neueste Zeit, 41.

 

 

 

[319]    Norbert Mette hält hierzu fest: „Der Inhalt der Evangelisierung meint nichts anders als den Dienst der Kirche an der Menschheit überhaupt, wobei dieser Dienst kein anderer ist als derjenige, den sie an sich selbst vollzieht […] Evangelisierung ist also nicht identisch mit dem Begriff der Christianisierung, welcher die Christlichkeit der Kirche als der Verbreiterin des Christlichen und das Christlichkeitsdefizit und -bedürfnis der Umwelt voraussetzt.“ Vgl. Mette, Norbert (1991): Problem der Methode, 181f.

 

 

 

[320]    Vgl. Kap. 3.2.4.

 

 

 

[321]    Kentenich, Josef (1965): Grundsteinlegung Rom.

 

 

 

[322]    Vgl. zur Methode Kentenichs auch Brantzen, Hubertus (1996): Methode; King, Herbert (1995): Neues Bewusstsein, 76–82.

 

 

 

[323]    Die Begründung dazu wird in Kap. 4.6. gegeben.

 

 

 

[324]    Vgl. dazu Kap. 4.6.2.

 

 

 

[325]    Bei der Zeitenstimme „Frausein“ wird deutlich, dass es viel Überzeitliches gibt, jedoch auch zeit- und kulturabhängige Aspekte. Im Vergleich zu anderen Zeiten ist es z.B. so, dass der Imperativ der eigenen (Geschlechter-)Identitätskonstruktion heute stärker ist als noch vor fünfzig oder hundert Jahren. Rollenbilder sind heute weniger starr als früher.

 

 

 

[326]    Somit wird auch gegen den Mangel an Kriteriologie angesteuert, den vor allem von Rahner bereits während dem Konzil angemahnt hat, der deshalb eine Deduktion aus dem Naturrecht vorschlug. Vgl. Sander, Hans-Joachim (2005): Theologischer Kommentar, 652.

 

 

 

[327]    Kentenich, Josef (1965/1966): Vorträge III, 186.

 

 

 

[328]    Auf ein derartiges straffendes Vorgehen gehen auch die in Kap. 2.2.2.1. genannten zeitdiagnostischen Gesellschaftsbeschreibungen zurück.

 

 

 

[329]    Kentenich, Josef (1961): Brief Juli 1961, 1.

 

 

 

[330]    Kentenich, Josef (1953): Brief vom 10.04.1953. So analysiert er zum Beispiel in einem Vortrag im Jahre 1963: "Wenn Sie nun im Hintergrunde das heutige Weltgeschehen, die heutige geistige Struktur, die geistigen Strömungen auf sich wirken lassen, dann werden Sie finden, wie der heutige Mensch kein Organ mehr hat für Einsamkeit.“ Kentenich, Josef (1963): Vortrag 11, 167.

 

 

 

[331]    Davon ausgehend kann dann in einer pädagogischer Anwendung Orientierung für den Menschen erfolgen, teilweise auch in Abgrenzung vom allgemeinen Zeitideal.

 

 

 

[332]    Am Beispiel des Bezugsproblems „sich in der Arbeitswelt durchsetzen“ könnten solche Programme oder Strategien sein: Anpassung an einen männlichen Führungsstil, ein sexy Outfit, fachlich höchste Kompetenz erstreben, ein Beziehungsnetzwerk knüpfen etc. Bezugsprobleme stehen oft in gestuften und komplexen Verhältnis zueinander. Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung kann hier eine ausführliche Analyse erfolgen.

 

 

 

[333]  Vgl. Brantzen, Hubertus (1996): Methode, 262.

 

 

 

[334]    Ob solche Veränderungen, die von einzelnen Personen und Gruppen in der Gesellschaft angestrebt werden, erfolgreich sein können, mag von Soziologen angezweifelt werden. Dort wo dabei jedoch die Eigengesetzlichkeiten der Welt und Gesellschaft geachtet werden und der Geist der Zeit gelebt wird, steigen jedenfalls die Chancen für Anschlussfähigkeit und Überzeugung. 

 

 

 

[335] Es ist zu vermuten, dass Kentenich Cardijn und seine Methode wahrgenommen hat. Ob es Einflüsse gab, kann hier nicht belegt werden. Vermutlich hat Kentenich seine Methode aber unabhängig entwickelt. Sie enthält auch zusätzliche Momente des Vergleichens und Straffens. Bemerkenswert ist aber das gleiche Grundanliegen, dass das konkrete Leben Ausgangspunkt und Ziel der Methode ist, wobei Kentenich im Vergleich zu Cardijn die Bedeutung von Ideen und Seinsgesetzlichkeiten stärker betont. Cardijn schreibt: „Denn wenn das Leben schon eine der wesentlichsten Grundlagen einer gesunden Theologie sein muss, so ist es zugleich methodisch eine Grundlage, ohne die man nur unnatürliche, künstliche Gesten fertig bekommt ,die nur noch mehr den Zwiespalt vertiefen, der zwischen Religion und Welt herrscht.“ Cardijn, Josef (o. J.): Führe mein Volk in die Freiheit!, 42.

 

 

 

[336]    Hierbei ist eine große Parallele zum Anliegen J. Cardijns zu erkennen: „Denn wenn das Leben schon eine der wesentlichsten Grundlagen einer gesunden Theologie sein muss, so ist es zugleich methodisch eine Grundlage, ohne die man nur unnatürliche, künstliche Gesten fertig bekommt, die nur noch mehr den Zwiespalt vertiefen, der zwischen Religion und Welt herrscht. […] Wir müssen es objektiv betrachten, um nach und nach menschliche Sicht und menschliches Urteilen durch Sicht und Urteil von Gott her zu ersetzen. Und schließlich und endlich werden wir nur durch ständigen Kontakt mit dem Leben fähig werden zu einem ernstzunehmenden Versuch, es umzuformen mit dem Ziel einer totalen Integrierung oder besser gesagt Reintegrierung in den Plan Gottes.“ Cardijn, Josef (1964): Laien im Apostolat, 160f.

 

 

 

[337]    Kentenich, Josef (1956): Studie, 134.

 

 

 

[338]    In einem Brief an seinen engen Mitarbeiter Pater Menningen macht er deutlich: „Sie haben mit uns die große Aufgabe, den Zeitgeist zu überwinden und den Geist der Zeit sich anzueignen.“ Kentenich, Josef (1953): Brief an P. Menningen, 43.

 

 

 

[339]    Luhmann, Niklas (1989): Die Ausdifferenzierung der Religion, 351.

 

 

 

[340]    Gefährlich und falsch werden solche Deutungen vor allem, wenn in einem fatalistischen Denken Gott für ein Übel verantwortlich gemacht wird, und damit fremdes Leid verharmlosend oder rechtfertigend dargestellt wird.

 

 

 

[341]    Kentenich, Josef (1956): Vortrag vor Marienschwestern am 18.10.1929 aus dem Generalbrief 1956, 204ff.

 

 

 

[342]    Augustinus: ver. rel, VIII, 15. Deutsch: „Wir sollen also somit auch von den Häretikern Gebrauch machen, doch nicht so, daß wir ihre Irrtümer guthießen, sondern so, daß wir, indem wir die katholische Lehre gegen ihre Nachstellungen absichern, wachsamer und vorsichtiger werden.“

 

 

 

[343]    Johannes XXIII. (1962): Konzilseröffnung, 117.

 

 

 

[344]    In Bezug auf diesen Sachverhalt wäre es aufschlussreich, die Schriftstelle Mk 1,21-28 näher zu untersuchen. Interessanterweise hat der vom unreinen Geist besessene Mann schneller als fast alle anderen Menschen das Wesen Jesu erkannt: „Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes.“

 

 

 

[345]    Wo es gelingt, Elemente des Zeitgeistes aufzugreifen und zu „taufen“, kann möglicherweise auch die Anschlussfähigkeit und Akzeptanz der christlichen Botschaft bei Außenstehenden erhöht werden.

 

 

 

[346]    Kentenich, Josef (1956): Studie, 137.

 

 

 

[347]    Das Thema „Ambivalenz und Ambiguität“ stellt somit eine wichtige Ergänzung im postmodernen Denken zu dem Thema „Differenz und Pluralität“ dar. Vgl. dazu Bauman, Zygmunt (2005): Moderne und Ambivalenz, sowie den Diskussionsband Koslowski, Peter (2004): Ambivalenz - Ambiguität - Postmodernität.

 

 

 

[348]    King, Herbert (1995): Neues Bewusstsein, 74.

 

 

 

[349]    Ebd., 69.

 

 

 

[350]    Kentenich, Josef (1963): Vortrag 10, 94f.

 

 

 

[351]    King, Herbert (1995): Neues Bewusstsein, 66.

 

 

 

[352]    Kentenich, Josef (1963): Studie 1963, 5.

 

 

 

[353]    Ebd.

 

 

 

[354]    Nach K. Lehmanns Diagnose „leben wir oft auch in der Kirche viel zu heutig. Es geht nicht mehr, wie in der Konzilszeit, um das ‚aggiornamento‘, d.h. um die lebendige Vergegenwärtigung der geschichtlichen Überlieferung in das Heute hinein. Uns fehlt der lange Atem. Deswegen fehlen uns auch das beständige Wissen um die Herkunft aus einer gewesenen Geschichte, die nicht nur Vergangenheit ist, aber auch die Zukunftsfähigkeit, die ein Zeichen für geschichtliche Verantwortung darstellt.“ Lehmann (2006): Neue Zeichen, 26.

 

 

 

[355]    Kentenich, Josef (1942): Weihevortrag für den Sponsa-Kurs vom 05.01.1942.

 

 

 

[356]    Vgl. Benedikt XVI. (2011): Ansprache Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. an engagierte Katholiken aus Kirche und Gesellschaft. Die Rede der Entweltlichung ist sicher nicht ganz eindeutig und kann fehlgedeutet werden. Doch sie wird verständlich vor dem hier beschriebenen Hintergrund der Differenz der Kirche von der Welt. 

 

 

 

[357]    Höhn, Hans-Joachim (2012): Gleicht Euch nicht an, 15.

 

 

 

[358]    Vgl. Joh 17, 11-19.

 

 

 

[359] Für das Thema Frausein oder auch Mannsein können z.B. folgende Gesichtspunkte das Thema erhellen: Körperlichkeit, seelisch-psychische Aspekte, Schöpfungsordnung, gesellschaftlicher Einfluss, Biologie, Hormone, Geschlechterverhältnis, Bedürfnisse, Lebendigkeit, prägende Erfahrungen.

 

 

 

[360]  Je nach dem wie gut diese Kunst beherrscht wird, besteht eine mehr oder weniger große Gefahr der Angleichung an die (Um-)Welt. Sozialwissenschaftler bezeichnen dies im Falle der teilnehmenden Beobachtung einer Gruppe als „going native“. Man wird praktisch zum „Eingeborenen“ einer anderen Gruppe, übernimmt unbewusst deren Plausibilitäten und merkt nicht mehr die Kontingenz ihres bzw. seines „Soseins“. 

 

 

 

[361]    In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes heißt es hierzu: „Die Gläubigen sollen also in engster Verbindung mit den anderen Menschen ihrer Zeit leben und sich bemühen, ihre Denk- und Urteilsweisen, die in der Geisteskultur zur Erscheinung kommen, vollkommen zu verstehen.“ (GS 62)

 

 

 

[362]    Ebertz, Michael N.; Kaeser-Casutt, Damian (2011): WG am Kirchplatz (St. Gallen), 153f.

 

 

 

[363]    Ostheimer, Jochen (2008): Zeichen der Zeit, 300. Eine Theorie, die bei der Beschreibung ihres Gegenstandes sich selbst mitbeschreibt und gleichzeitig ihren Gegenstand als einen sich selbst beschreibenden wahrnimmt, nennt Luhmann autologisch. Vgl. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, 16.

 

 

 

[364]    Kentenich, Josef (1964): Vortrag II an Pars Motrix 1964, 138.

 

 

 

[365]    Kentenich, Josef (1954): Zwanzigerbrief, 99.

 

 

 

[366]    Kentenich, Josef (1965/1966): Vorträge V, 28f.

 

 

 

[367]    Kentenich, Josef (1953): Brief an P. Menningen, 49.

 

 

 

[368]    Kentenich, Josef (1954): Zwanzigerbrief, 201.

 

 

 

[369]    Kentenich, Josef (1965/1966): Vorträge V, 58.

 

 

 

[370]    King, Herbert (1995): Neues Bewusstsein, 72.

 

 

 

[371]    Gemeint sind hiermit zum einen der Vorgang der Situiertheit des Einzelnen, sowie auch die Tatsache, dass Zeitenstimmen als Gottesstimmen immer auch als selektive Botschaften für Individuen oder für Kollektive sein können.

 

 

 

[372]    Vautier, Paul (2006): Spuren Gottes, 55.

 

 

 

[373]    Kentenich, Josef (1954): Zwanzigerbrief, 201.

 

 

 

[374] In einem Brief im Jahre 1950 schreibt er beispielsweise: „Sie wissen, dass ich jetzt en paar Wochen durch Deutschland hindurchgereist bin, um die geistigen Strömungen in mich aufzunehmen.“ Kentenich, Josef (1950): Brief vom 30. April 1950.

 

 

 

[375]    Ratzinger, Joseph (1968): Gaudium et spes, 314. Über den „idealen Menschen der Kirche“ äußert sich auch Henri de Lubac: „Er bleibt empfangsbereit, läßt sich in keine Festung starrer Abwehrhaltungen einschließen. Er vergisst nicht, daß Kirche nicht nur im Haupt, sondern auch in den Gliedern ‚lauter Ja’ in sich tragen muß, und daß jede Ablehnung nur die Kehrseite einer stärkeren Bejahung sein darf. Sowenig wie die Kirche selbst gibt er dem Geist des Kompromisses Raum, aber er will doch auch wie sie ‚alle Türen offenlassen, durch die auch ganz verschieden geartete Geister zur einen Wahrheit Zugang finden.’ […] Er begreift, dass der katholische Geist, straff und biegsam zugleich, ‚mehr zur Liebe als zum Streit neigt.’“ Lubac, Henri de (1968): Die Kirche, 225f.

 

 

 

[376]    Siehe dazu auch die Ausführungen über das „hörende Herz“ in Kap 4.3. J. Kentenich bemerkt hierzu: „Schwerhörigkeit und Hartherzigkeit und Herzensverderbnis können sich schnell miteinander verbinden und die Wahrheit von sich weisen.“ Kentenich, Josef (1955): Chronik Notitzen, 370.

 

 

 

 

 

 

 

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