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Samstag 23.11.2024, 17:42 Uhr
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Kernsätze
aus dem Impulsreferat des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, zur Eröffnung der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda am 20. September 2010:

Zukunft der Kirche – Kirche für die Zukunft

Plädoyer für eine pilgernde, hörende und dienende Kirche

 

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Mir scheint, liebe Mitbrüder, dass uns Gott gegenwärtig kräftig an unser Pilgerdasein erinnert. In die Fremde unserer Gegenwart schickt er uns, um auszuloten, wo wir in ihr neu Heimat finden können. Dem Leben der Kirche sollen wir ein neues Gesicht geben. Stagnation wäre Verrat. Nicht wir dürfen auf die Welt warten, als müsse diese zu uns kommen. Vielmehr müssen wir zur Welt gehen: zum Menschen von heute. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht wiederholt vom „pilgernden Volk Gottes“. Steter Aufbruch und stete Erneuerung sind Grundbedingungen lebendigen Glaubens.

Jesus hat nicht gesagt: „Zieht euch in Stille zurück und wartet ab!“ Im Gegenteil: „Geht zu allen Völkern, macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19); „Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. [...] Fürchtet euch nicht (vor ihnen)!“ (Mt 10,16.26). Die Dynamik des Aufbruchs in eine Welt, die zugleich Fremde und ein Stück zu Hause ist: Die Dynamik einer ständigen Erneuerung, die uns in Bewegung hält.

Wir spüren die bohrende Frage nach der Glaubwürdigkeit unserer Kirche in Deutschland. Diese Glaubwürdigkeit hängt ab von der Lebendigkeit der Kirche, ihrer Fähigkeit zu Umkehr und neuem Aufbruch und zu neuer Evangelisierung. Allerdings nicht im Geist einer Veränderung um ihrer selbst willen, sondern aus der inneren Verbundenheit mit dem Herrn im Glauben. Eine pilgernde Kirche ist unterwegs mit Christus und auf Christus hin. Als solche verdient sie dann auch das Vertrauen der Menschen.

Die Menschen wollen uns vertrauen können. Sie suchen Hilfe und Orientierung in den großen Fragen ihres Lebens. Sie wollen, wenn sie uns begegnen und uns Vertrauen schenken, Christus selbst begegnen. Das gilt für unsere Gläubigen genauso wie für zahllose Menschen außerhalb der Kirche.

Wenn Opfer ihr Schweigen brechen und darüber zu sprechen beginnen, wie sie erniedrigt und gedemütigt wurden, dann ist das für uns die Stunde des Anhörens und Zuhörens. Stets beginnt die Umkehr des Gläubigen im Hören und Sehen des Nächsten, besonders des Armen. Wir haben noch mehr zu lernen, eine Kirche des Hörens zu sein.

Die Bibel weiß besser als das optimistische Denken mancher moderner Geistesströmungen, dass die Welt nicht nur gut ist und auch nicht durch menschliche Moralität in Ordnung gebracht werden kann. Der Mensch ist immer auch Gefangener der Sünde. Er kann scheitern. Haben wir nicht die Theologie des Scheiterns zu kurz kommen lassen? . . . Haben wir nicht das Bild unserer selbst und der Priester so stilisiert, dass der menschliche Abgrund übersehen wurde, vor dem unausweichlich auch der geweihte Mensch steht? Die Folge: Unehrliches Reden und Handeln, Mangel an Offenheit und Wahrhaftigkeit, Neigung zum Überdecken von Fehlern und Hinwegsehen über Verbrechen.

Zwar weiß ich aus meinem eigenen Leben, wie oft und intensiv die Bischöfe und Pfarrer das Dunkel der Schicksalsschläge, Verstrickungen und Schwachheit von Menschen mittragen. Ich will aber auch nicht bestreiten, dass wir uns die Nachfrage gefallen lassen müssen, ob wir in ausreichendem Maß Lernende sind, die bescheiden und demütig in die Schule des Lebens gehen und nicht in allem immer schon Bescheid wissen. Verschlossenheit und Realitätsferne aus Voreingenommenheit können zu Hartherzigkeit führen. Die aber vertieft die Krise des Vertrauens und den Mangel an Glaubwürdigkeit, dem wir begegnen.

Vielleicht wird heute zu wenig deutlich, dass die Kirche anders ist als andere Vereinigungen. Vielleicht ist ihr Bezug zu Gott nicht hell genug. Vielleicht vergessen wir die transzendenten Quellen, aus denen die Kirche lebt. Es wäre eine Selbstsäkularisierung, würden wir in der Kirche vor allem ihren Einsatz für die Gerechtigkeit und die effiziente Organisation der Pastoral hervorheben und dabei das göttliche Licht unter den Scheffel stellen, das darin leuchtet. Denn Gebet und Liturgie, Verkündigung des Glaubens und Zuwendung zu den Menschen in Not offenbaren nicht nur Menschliches, sondern Göttliches. . . . . Vertrauen wird man der Kirche dann schenken, wenn sie authentisch sie selbst ist: eine spürbare und glaubwürdige Einheit von Göttlichem und Menschlichem, wie sie die Menschen auch in der Gegenwart suchen und ersehnen.

In vielen Begegnungen und Gesprächen der letzten Monate hat es mich geschmerzt, dass nicht wenige Menschen mit dem Vertrauen in die Kirche auch den Glauben an Gott und die Hoffnung auf seine beschützende Liebe verloren haben. Viele empfinden ihren ohnehin angefochtenen Glauben nun noch schwächer als zuvor. Mag sein, dass es dafür in jeder einzelnen Biographie viele Gründe gibt. Doch müssen wir eingestehen, dass auch das Handeln – oder eben auch das langjährige Nicht-Handeln – der Kirche und Fehler und Fehlhaltungen unserer selbst den Zugang zu Gott erschweren.

Ich bestreite nicht, dass uns die zurückliegenden Monate in krasser Weise die Ambivalenzen der Mediengesellschaft gezeigt haben. Es gab auch einen Mangel an journalistischer Professionalität und fragwürdige Polemik. Am Ende aber frage ich mich, ob uns nicht mehr als dies alles ärgern muss, dass es nicht selten die Medien waren, die den Opfern eine Stimme gegeben haben – was eigentlich unsere Aufgabe gewesen wäre.

Aufbrauch verlangt eine konsequente Option für die Menschen. Ohne eine positive und liebevolle Einstellung zum Menschen gibt es keine pilgernde und missionarische Kirche. . . . Unser Alleinstellungsmerkmal ist es, dass wir die Menschenliebe Gottes vergegenwärtigen. Darauf können wir nicht verzichten.

Die Wahrheit des Anderen aufnehmen und sie vom Anderen hören: Vielleicht müssen wir die Chance und Herausforderung des Dialogs noch stärker wahrnehmen und schätzen. Um so weit und weltoffen zu werden, wie es einer Kirche entspricht, die eben in der Fremde der Welt nicht nur fremd, sondern auch beheimatet sein will. Weil wir Christen wissen, dass Gottes Geist überall wirkt, brauchen wir keine Angst zu haben, uns selbst zu verlieren und aufzugeben, wenn wir Brücken des Dialogs bauen. „Jede Wahrheit, von wem sie auch verkündet wird, kommt vom Heiligen Geist“ – so sagt es der heilige Ambrosius.

Die Menschen und die Welt haben der Kirche Entscheidendes zu sagen. Sie sind die Welt, in der wir leben und verkünden, auch wenn dies zunächst fremd erscheint. Natürlich müssen wir auch Fragen und Kritik anhören und aushalten, auch solche die wir nicht annehmen wollen. Aber auch eine ungerechtfertigte Kritik kann Ausdruck dafür sein, dass ein Mensch auf der Suche nach etwas Richtigem ist. Dass er bei uns nicht oder noch nicht das findet, was er für sein Heil sucht. Das gilt es dann auch ernst zu nehmen.

Das Aufdecken des Versagens einer Reihe von Priestern und Ordensleuten hat Fehler in der Wahrnehmung, Beurteilung und Reaktion zutage gefördert. Wir haben Opfern zu wenig zugehört, Fehler falsch beurteilt und unser Handeln, wie andere auch, oft zu sehr darauf ausgerichtet, dass das Ansehen der eigenen Institution, der Kirche, bewahrt bleibe. Die Zuwendung zu vielen Menschen war zu oft misslungen.

Wir sind aufgeschlossen für Veränderungen, die uns als Kirche stärker machen, weil sie uns enger mit Gott, wie auch enger mit den Menschen und der Welt von heute verbinden.

Der neue Aufbruch, den wir suchen, beginnt bei uns selbst! Wir brauchen eine vertiefte Selbstvergewisserung über uns selbst, besonders darüber, was wir als Bischöfe zu tun haben: im eigenen Bistum, in der Bischofskonferenz und in der Weltkirche, auch in Bezug auf die Einheit mit unserem Heiligen Vater. Wir haben diese Reflektion über uns selbst bislang selten angestellt. Auch nicht über unser Kommunikationsverhalten. Unsere öffentliche wie auch die interne Kommunikation war nach meinem Eindruck im ersten Halbjahr nicht gerade vom Gedanken der Communio geleitet und kaum aufeinander abgestimmt – um es milde zu sagen.

Zweifellos leisten gläubige Christen und viele kirchliche Einrichtungen zahllose Dienste in und an unserer Gesellschaft. Dies darf und soll auch gesagt werden.[i] Doch es kommt darauf an, dies mit „demütigem Selbstbewusstsein“ zu sagen und zu tun. Ein Glaube, der von der Liebe getragen ist und sie aufscheinen lässt, kann Menschen ansprechen und überzeugen. Eine in dieser Weise demütig dienende und sich dabei (zumindest ab und zu) selbst vergessende Kirche kann, so Joachim Wanke, zukunftsweisend sein für unsere Kirche in Deutschland.

Jeder von uns kennt Menschen, die in den verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens Herausragendes leisten und der Kirche ihre Hilfe und ihren Sachverstand anbieten – aus Respekt und unabhängig von ihrer eigenen Gläubigkeit. Warum sollten wir sie nicht in diesen Reflektionsprozess hinein nehmen? In unseren Orden, in den geistlichen Gemeinschaften, den Vereinigungen und Initiativen, den katholischen Verbänden, in unseren Priesterräten, den Diözesanräten und im Zentralkomitee der deutschen Katholiken haben wir engagierte und qualifizierte Weggefährten. Warum sollten wir nicht dazu einladen, dass sich viele in Wahrhaftigkeit, Mut und Klugheit an diesem Nachdenken beteiligen – und zwar die Priester, Diakone, Ordensleute und die „Laien“, die oft Experten sind.

Es geht um den Pilgerweg der Kirche in unserer heutigen Welt – konkret und in Orientierung am Leben der Menschen von heute. Es geht um mehr als bloß Reparaturen: Es geht um die Verlebendigung des kirchlichen Lebens.

Wie kann eine Kommunikation aussehen, die das Gespräch zwischen Bischöfen, Priestern und Gläubigen dauerhaft auf eine bessere Grundlage stellt? Und was erwarten die Menschen wirklich von uns, was schulden wir ihnen? Wissen wir das wirklich? Oder glauben wir nur immer schon, es zu wissen, weil wir nicht selten seit Jahrzehnten immer nur die Fragen hören, an die wir uns gewöhnt haben? Wichtig ist der Austausch über Hintergründe und Argumente für verschiedene Positionen. Wir müssen darüber reden, warum wir die Dinge so sehen, wie wir es tun. Und wir müssen verstehen, warum andere in derselben Sache zu anderen Positionen kommen. Nur so können wir die richtigen und in die Zukunft weisenden Antworten finden, die wir schuldig sind – und dies auf eine Weise, die verständlich ist.

Der Weg der Kirche in Deutschland muss heute, liebe Mitbrüder, die Mitte finden zwischen einer ängstlichen Absonderung von der Welt und einer sendungsvergessenen Anpassung an die Welt. Je nach Standpunkt kritisieren die einen ein Aggiornamento, das angeblich zu weit geht oder angeblich nicht weit genug geht. Wechselseitige Vorwürfe führen oft zu Verhärtungen. Es kommt dann leicht zu Stillstand und Leerlauf. Angst ist auf jeden Fall ein schlechter Ratgeber: sowohl die Angst derer, die an alten Zeiten festhalten und den Wandel nicht ernstnehmen wollen, als auch die Angst derer, die das Bewährte wegtun und die Spannung, in der der Glaube zu jeder Zeit stehen muss, auflösen wollen. Die einen meinen, Gottes Geist wirke immer nur in den altbekannten Formen und Formeln. Als ob nicht die ganze Geschichte des Christentums eine Geschichte voller Dynamik, eine Geschichte immer wieder neuer Übersetzungsleistungen gewesen wäre: aus dem Judentum in die griechische Welt, aus der Kultur des Mittelmeerraumes zu den Germanen, vom Mittelalter in Neuzeit und Moderne.

Ihr Urbild für diesen Weg hat die Kirche in Maria, der Mutter unseres Herrn. Die Schrift schildert, dass sich die Jünger nach der Erhöhung des Herrn zum Vater um Maria sammeln, im Abendmahlssaal. Wo Maria ist, da entsteht Gemeinschaft, da wächst Kirche. Das hat eine Verbindlichkeit für die Kirche: Sie muss selbst sein wie Maria. Eine marianische Kirche ist eine Kirche, die birgt und Heimat gibt. Sie macht Mut, in die fremde Welt zu gehen und dort Heimat zu finden. Eine Kirche nach dem Urbild Maria ist eine Kirche geschwisterlicher Communio, getragen von Liebe und Solidarität. Sie ist eine pilgernde und hörende Kirche, ausgerichtet auf Gottes Ruf und Wort; eine geisterfüllte Kirche, voller Energie und Dynamik, eine Kirche, die Tag für Tag neu auf Gottes Geist hört, danach handelt und aufbricht.

Ohne Zweifel brauchen wir in unserer Kirche eine vertiefte Sensibilisierung und eine neue Wertschätzung des Miteinanders. Könnte es nicht sein, dass in der Gabe des anderen, in der Verschiedenheit und Vielfalt der Fähigkeiten und Talente etwas sichtbar und erfahrbar wird von Gottes Güte, Unendlichkeit und Fülle? Wer dies begriffen hat, sieht in der Vielzahl der Gaben nicht vorrangig eine mögliche Gefahr für die Einheit, nicht Anlass zu Neid und Zwietracht, sondern die Chance für kirchliche Lebendigkeit. Die Fähigkeit des anderen reicht möglicherweise über meine eigenen Grenzen hinaus und ist damit auch Begabung, Bereicherung und Gabe für mich.

Ich jedenfalls war aufs Neue beeindruckt von der Breite des kirchlichen Engagements, das in München zu erleben war. Besonders von den Ehrenamtlichen, die zehntausende Stunden zur Unterstützung unserer Gemeinden und Verbände aufbringen. Wir sind keineswegs Zeugen eines Zusammenbruchs des kirchlichen Lebens und Glaubens. Ich wundere mich sogar darüber, wie geflissentlich oft das viele Gute übersehen wird, das auch heute aus dem kirchlichen Raum erwächst.

Wir wollen unsere Mitmenschen hören und wir wollen mit ihnen sprechen. Wir wollen eine Kirche der Pilgerschaft sein, der anzumerken ist, dass sie in göttlichem Auftrag handelt. Wir wollen uns der Vielfalt der Gaben und Begabungen bedienen und eine geistliche Gemeinschaft vertiefen. Nicht Angst und Verzagtheit, nicht eine Flucht nach vorne und nicht der Traum von gestern sollen uns bestimmen und beseelen, sondern das Heil der Welt: fremde Heimat, aber eben Heimat in der Gefährtenschaft dessen, der alle Tage bei uns bleibt, bis zum Ende der Welt.

 

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